Das Fenster zur Welt

Von Sven Näbrich · 29.10.2007
Leipzig gilt seit Jahren als Aushängeschild für den deutschen wie internationalen Dokumentarfilm. Das DOK Leipzig ist eines der weltweit führenden Festivals im Dokumentar- und Animationsbereich und feiert in diesem Jahr sein 50. Jubiläum. Zu Beginn war es ein Treffpunkt für Filmschaffende aus Ost und West und für die Leipziger die Möglichkeit, einen Blick nach "draußen" zu werfen.
Wolfgang Lötzsch: "...also war ich immer in Opposition. Ich habe gegen das Sportsystem gekämpft mit meinen Leistungen, und das war gegen das System. Weil die Genossen gesagt haben: 'Du nicht.' Und ich hab gesagt: 'Ja, ich doch'."

Wolfgang Lötzsch war ein Phänomen. Ein brillanter Radfahrer, ein Ästhet im Rennsattel. Und ein Sturkopf obendrein, zumindest in den Augen der Staatsicherheit. Die Genossen ließen den, wie es hieß "ideologisch indifferenten", Lötzsch überwachen, stellten ihn kalt und steckten ihn schließlich ins Gefängnis. Das Ende einer jungen und hoffnungsvollen Karriere. Heute, 30 Jahre später, dient der Fall des Wolfgang Lötzsch als Stoff für den Dokumentarfilm "Sportsfreund Lötzsch", der diese Woche in Leipzig seine Uraufführung feiert.

Die Dokumentation geht als eine von über 80 Wettbewerbsbeiträgen ins Rennen um die Filmpreise in insgesamt vier Kategorien. Und doch steht die DOK-Woche diesmal ganz im Zeichen des eigenen Jubiläums - es ist die 50. Ausgabe des Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm. Festivalleiter Claas Danielsen wirft einen Blick zurück auf die Anfänge:

"Das Festival wurde 1955 vom Club der Filmschaffenden in der DDR gegründet. Es war noch die Zeit, als man hoffte, dass Ost und West zusammenkommen würden und deswegen hat man es angelegt als ein Treffen für Filmemacher aus Ost und West. Und als dann die Zeiten immer kälter wurden und der Eiserne Vorhang sich senkte, musste sich das Festival neu orientieren. Und es wurde dann drei Jahre nicht durchgeführt und dann neu ausgerichtet auch im Interesse der Kultur und Außenpolitik der jungen DDR."

Im Interesse der jungen DDR stand vor allem das internationale Ansehen - und so fungierte die DOK-Woche als Schaukasten einer offenen, weltmännischen DDR. Als A-Festival spielte Leipzig mit im Konzert der Großen - von der Berlinale bis hin zu den Filmfestspielen von Venedig. Und doch konnte all der Glanz nicht verhehlen, dass das Festival in den 70er und 80er Jahren zunehmend unter politischen Druck geriet. Filme wurden vorsortiert, ideologisch abgeklopft und manch unliebsame Produktion landete noch vor der Uraufführung im Giftschrank der Zensur. Die Staatsmacht hatte ihre Finger mehr und mehr im Spiel. Zudem wurde der sozialistische Bruderfilm bevorzugt behandelt.

Gleichwohl blieb die Qualität des Wettbewerbs unverändert hoch. Die Qualität der Beiträge war jenseits aller politischer Vereinnahmung ausgezeichnet und wurde zum Markenzeichen. Viele Filmemacher kamen aber auch aus einem ganz anderen Grund in die Stadt, so Festivaldirektor Danielsen:

"Das Festival selber war für Filmemacher legendär, denn hier war eigentlich einer der ganz wenigen Orte, wo sich Dokumentarfilmemacher aus Ost und West treffen konnten, wo man dann auch doch trotz genauer Beobachtung des Festivals durch die Stasi sich immer wieder kleine Freiräume schaffen konnte, wo man miteinander reden und sich austauschen konnte. Es war für das Publikum hier in Leipzig und in der ganzen DDR enorm wichtig, weil sie hier Filme sehen konnten aus dem Rest der Welt, die sonst nicht zu sehen waren. Deswegen wurde das Festival auch 'Das Fenster zur Welt' genannt."

Heute ist es vor allem ein Ort für all die unerzählten Geschichten, die jenseits der Schlagzeilen stattfinden. Formal reicht die Spanne vom puristischen über den politischen bis hin zum tragikomischen Dokumentar- und Animationsfilm. Und auch Märchenhaftes ist dabei, so "Heinz und Fred", ein Film von Mario Schneider. Eine verträumt, fast surreale Geschichte aus dem Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt, wo man nicht nur eine eigene Sprache spricht, sondern auch zum Tod ein gesondertes Verhältnis hat. Melancholisch erzählt der Film vom Verlust eines geliebten Menschen:

Szene aus "Heinz und Fred":
"Dass das alles vorbei ist, da ist Schluss. Das ist doch ein Witz ist doch das. Vor hundert Jahren konnten sie Leuten das einreden, verstehste, dass da oben einer ist, der da aufpassen tut. Aber heute doch nicht mehr... Die ist gestorben, ist weg. Die kommt nicht zurücke. Die kann dir nicht helfen - das ist erledigt. Das ist vorbei, und wenn ich die Augen zumache, ist es auch vorbei."

"Heinz und Fred" ist die Geschichte von zwei Männern, einem Vater und seinem Sohn, die nach dem Tod der geliebten Frau bzw. Mutter allein über die Runden kommen müssen. Eine anrührende Geschichte von zwei Außenseitern, die sich in einer eigenen Welt eingerichtet haben. Dass "Heinz und Fred" überhaupt im Wettbewerb läuft, hat Regisseur Mario Schneider überrascht. Mit den Parametern eines klassischen Dokumentarfilms nämlich ist sein Film kaum zu fassen. Für Mario Schneider umso erfreulicher, dass er in Leipzig in diesem Jahr mit dabei ist.

"Also ich denke, was das DOK-Festival Leipzig betrifft, ist es eher glaube ich untypisch, so einen Film wie 'Heinz und Fred' dort zu sehen. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir dort laufen. Weil, ich denke, dass die zwar eine große Bandbreite haben, aber ich denke, dass der puristische Dokumentarfilm schon überwiegt. Und das, was ich da mache, mit Musik und Märchenerzähler und einer Geschichte, die sehr gestaltet ist, das ist schon eher selten, glaube ich. Deswegen bin ich eigentlich froh, dass das DOK-Fest sich so 'ne Sachen traut."
Claas Danielsen, neuer Direktor des Leipziger Dokumentarfilm-Festival
Claas Danielsen, Direktor des Leipziger Dokumentarfilm-Festival© AP