Das Erwachen einer Zivilgesellschaft

Von Gesine Dornblüth · 18.04.2013
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 regiert Präsident Nursultan Nasarbajew die Republik Kasachstan autoritär. Internationale Beobachter werfen ihm Wahlfälschung und Korruption vor. Oppositionelle werden inhaftiert und kritische Zeitungen werden verboten. Doch jetzt, und das ist neu, wehren sich auch die einfachen Bürger.
Ayzhan Yermekbayeva steuert ihren Kleinwagen durch die Straßen von Almaty. Die 36-Jährige trägt einen modischen Kurzhaarschnitt, Sonnenbrille, Jeans.

"Ich hab schon ganz vergessen, wann ich das letzte Mal Nachrichten gesehen habe. Seit zwei Wochen hänge ich jeden Tag von morgens bis abends bei Facebook."

Ayzhan Yermekbayeva ist Übersetzerin für Russisch und Englisch, aber zur Zeit hat sie vor allem eine Beschäftigung: Sie organisiert den Protest von Frauen gegen ein neues Mutterschutzgesetz. In Kasachstan zahlt der Staat das Mutterschutzgeld. Im Februar wurde es für besser verdienende Frauen auf etwa ein Drittel gekürzt. Dagegen machen Frauen mobil. Sie organisieren sich im Internet. Ayzhan Yermekbayeva geht in ein Café, bestellt Wasser. Sie ärgert vor allem, dass die Parlamentarier die Kürzungen beschlossen haben, ohne sie vorher mit der Öffentlichkeit zu diskutieren.

"Man hätte doch nach Alternativen suchen können. Jetzt ist unsere Position: Gut, wenn ihr das Gesetz nicht rückgängig machen wollt, dann hört wenigstens unsere Meinung. Wir sind zwar nur 30.000 Frauen, die das betrifft, aber wir sind auch Bürger dieses Landes. Und ihr könnt nicht einfach Gesetze machen und 30.000 Bürger ignorieren."

Genau das ist in Zentralasien bisher weit verbreitet: Dass Politiker Gesetze machen, ohne sich großartig um die Meinung der Bürger zu scheren. Doch nun haben sich 9000 Frauen der Facebook-Gruppe um Ayzhan Yermekbayeva angeschlossen. Sie haben Briefe an alle Abgeordneten Kasachstans und an den Staatspräsidenten geschrieben. In den vergangenen Wochen demonstrierten sie in der Hauptstadt Astana und in Almaty.
"Wir Frauen wollen einfach zeigen, dass wir da sind. Und dass wir mehr sind als zwanzig Leute, wie einige Medien schreiben."

Mittlerweile geht es der Gruppe um mehr als den Mutterschutz. Im Internet diskutieren sie auch Themen wie die geplante Erhöhung des Rentenalters in Kasachstan oder die Schmiergelder, die nötig sind, um einen Kindergartenplatz zu ergattern. Und sie planen entsprechende Aktionen. Dass sich Menschen auf diese Art in die Entscheidungsprozesse einmischen, ist in Kasachstan neu.

"Viele Menschen in Kasachstan haben sich daran gewöhnt, nichts zu tun. Sie sagen, sich zu beschweren oder vor Gericht zu ziehen, sei nur Zeitverschwendung und schlecht für die Nerven. Aber das stimmt nicht. Wir haben Gesetze. Und unsere Gruppe ist stark, weil wir viele sind. Allein würde ich diesen juristischen Hürdenlauf sicher nicht bestehen. Ich würde physisch und moralisch daran scheitern. Ich würde meine Energie für etwas anderes aufsparen und mich den gegebenen Umständen anpassen. Aber jetzt sind wir viele, wir sind gebildet, wir haben einen Standpunkt, und der hat Hand und Fuß, juristisch und ökonomisch."

Ayzhan Yermekbayeva treibt lediglich eine Sorge um: Sie möchte nicht mit der Politik in Verbindung gebracht werden, hat Angst, dass die Gruppe von der Opposition vereinnahmt wird und dass sie dann Schwierigkeiten bekommt. Diese Vorsicht ist begründet. Denn wer sich in Kasachstan in der Opposition engagiert, kann die volle Härte der Justiz zu spüren bekommen. Das zeigt das Beispiel der Oppositionsbewegung Alga, Vorwärts. Deren Vorsitzender, Vladimir Kozlow, ein engagierter Kritiker der kasachischen Führung, wurde im vergangenen Sommer zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Kozlows Stellvertreter, Michail Sizow, empfängt Journalisten in einer fast leeren Mietwohnung in Almaty. Die Justiz hat das Büro von Alga konfisziert. Die politische Arbeit der Bewegung ist gelähmt. Michail Sizow:

"Wir setzen uns zurzeit vor allem für bessere Haftbedingungen für Wladimir Kozlow ein und dafür, dass er möglichst bald frei kommt. Natürlich haben wir nach wie vor den Anspruch, an die Macht zu kommen oder ins Parlament einzuziehen. Wir stehen zu unserer Aufgabe, das politische System zu reformieren. Denn ohne politische Reformen gerät Kasachstan in eine Sackgasse. Aber das erfordert viel Arbeit, und wir sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht in der Lage, eine schlagkräftige politische Partei zu gründen."

Harte Strafen für Kritiker

Kozlow wurde im Anschluss an Unruhen in der kasachischen Ölförderstadt Schanaozen festgenommen. Tausende Arbeiter hatten dort für höhere Löhne gestreikt. Nach mehreren Monaten eskalierte der Konflikt. Polizisten schossen in die Menge, mindestens ein Dutzend Menschen verloren das Leben. Das war Ende 2011. Kozlow war ein paar Mal nach Schanaozen gereist, hatte die Streikenden juristisch beraten, erzählt sein Stellvertreter Michail Sizow. Das Gericht dagegen befand, Kozlow habe zu Massenunruhen aufgerufen. Internationale Beobachter, darunter auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, halten seine Verurteilung für politisch motiviert. Für Sizow steht fest: Ausschlaggebend für die Verurteilung Kozlows war dessen permanente Kritik an Staatspräsident Nurzultan Nazarbajew. Der 72-jährige Nazarbajew regiert Kasachstan seit der Unabhängig-keit des Landes: Seit mehr als zwanzig Jahren. Sizow:
"Man kann in Kasachstan ohne weiteres das System oder auch konkrete Beamte kritisieren oder die eigenen Rechte einfordern. Das birgt kein Risiko. Aber sobald du Präsident Nazarbajew persönlich kritisierst, seine Verwandten oder sein näheres Umfeld, drohen Ordnungsstrafen und sogar Strafverfahren."

Und die richten sich nicht nur gegen Personen und politische Bewegungen, sondern auch gegen die Medien. In einer beispiellosen Aktion hat die kasachische Justiz in den vergangenen Monaten so gut wie alle oppositionellen Zeitungen, Fernsehsender und Internetportale geschlossen – insgesamt mehrere Dutzend. Der Anlass auch hier: Die Unruhen in Schanaozen bzw. die Berichterstattung über die Ereignisse in der Ölarbeiterstadt.

Gerichtssaal, Stöckelschuhe

Pressetermin im Stadtgericht von Almaty. Richterin Scholpan Kurmanbekova lächelt nicht. Schmallippig nimmt sie hinter dem Pult Platz. Hochgeschlossenes Kostüm, strenger Zopf.

"Sehr geehrte Medienvertreter. Das Pressezentrum des Stadtgerichts von Almaty erklärt seine Arbeit für eröffnet."

Kurmanbekova und ihre Richter-Kollegen wollen das Vorgehen der Justiz gegen die oppositionelle Presse erläutern. Etwa zwanzig Journalisten sitzen im Pressesaal, viele sind von dem Verbot betroffen und derzeit arbeitslos. Sie haben Fragen und wollen sie sofort stellen. Die Richterin herrscht sie an.

"Wir legen hier die Regeln fest, nicht Sie."

Richter Totybajtegi erhält das Wort. Der grauhaarige Mann hat am 25. Dezember 2012 verfügt, die größte oppositionelle Zeitung Kasachstans, "Golos Respubliki", Stimme der Republik, zu verbieten. Und mit ihr alle zu dem Unternehmen gehörenden Titel sowie mehr als zwanzig Websites und Online-Netzwerke, auf denen die Texte von Golos Respubliki erschienen.

Noch einmal rappelt er das mehrseitige Urteil und die Begründung herunter.

"Ein am 1. Juni 2012 im Auftrag des Justizministeriums erstelltes Gutachten ergab, dass die Inhalte von ´Golos Respubliki`, sowie der dazugehörenden Zeitungen und der genannten Webportale darauf zielen, soziale Unruhen zu schüren. Sie rufen zum gewaltsamen Umsturz auf. Entsprechend der Mediengesetze Kasachstans ist dies ein Grund, die Publikationen zu schließen."

Oksana Makuschina ist die stellvertretende Chefredakteurin von "Golos Respubliki". Sie weist die Vorwürfe zurück.

"Gut, es waren kritische Artikel. Aber sie enthielten keine Aufrufe. Wir haben lediglich Menschen zitiert, die die Lage in Schanaozen kommentiert haben. Diese Zitate waren natürlich emotional. Es hieß zum Beispiel: Wozu brauchen wir eine Regierung, die die Probleme der Ölarbeiter ignoriert? Das war aber nicht unsere Meinung, wir haben sie nur wiedergegeben."

Viele der Journalisten tragen Halstücher. Jetzt nehmen sie sie ab und halten sie hoch. Darauf stehen Losungen: "Die Richter haben das Gesetz in Kasachstan beerdigt" und "Meinungsfreiheit kann man nicht ersticken". Stella Ogaj, eine der Journalistinnen:

"Wir wollen den Richtern zeigen, dass ihre Entscheidung, die Zeitungen zu schließen, ungerecht und grundlegend falsch war. Es geht nicht um Extremismus. Sie wollen die Meinungsfreiheit einschränken. Nur darum geht es ihnen."

Stella Ogaj hat für die Zeitung "Azad" gearbeitet. Das Blatt hatte den arbeitslos gewordenen Journalisten von "Golos Respubliki" Asyl gewährt und ihre Artikel gedruckt. Daraufhin wurde auch "Azad" verboten. Oksana Makuschina von "Golos Respubliki" sagt, die Justiz wolle verhindern, dass kritische Journalisten in Kasachstan überhaupt arbeiten:

"Das kommt einem Berufsverbot gleich. Dagegen werden wir vor dem Verfassungsgericht klagen. Wahrscheinlich werden die Richter unsere Klage abweisen, aber dann ziehen wir vor den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen. Das wird zwar dauern, aber wir sind entschlossen, bis zum Ende zu gehen."

Makuschina ist es gewohnt, zu kämpfen. Sie erzählt von einem enthaupteten Hund vor ihrem Fenster, von einem Beerdigungskranz, der ihrer Chefin in die Redaktion geschickt wurde, von Gerichtsverfahren und Drohbriefen gegen die Zeitung. Zuletzt wurde "Golos Respubliki" in Russland gedruckt, weil sich in Kasachstan keine Druckerei fand. Das Blatt ist frech, die Journalisten vergleichen Staatspräsident Nazarbajew schon mal mit Leonid Breschnew, dem Betonkopf, der 18 Jahre an der Spitze der Sowjetunion stand und sie in die Stagnation führte. Das provoziert die Mächtigen.

Oksana Makuschina: "Sie versuchen schon seit elf Jahren, uns dicht zu machen. Jetzt benutzen sie die Geschichte mit Schanaozen, um uns endgültig zu schließen. Weil unser Land keine Kritik verträgt. Menschen, die eine andere Meinung als die offizielle haben oder lesen wollen, haben hier keinen Platz."

Das Wachsen einer Zivilgesellschaft

Doch immer mehr Menschen in Kasachstan engagieren sich jenseits der politischen Lager, jenseits der Parteien.

Ein Club im Zentrum von Almaty. Hier sitzt Dmitrij Zhukov, 40 Jahre alt, Bankan-gestellter, mit einem Laptop auf den Knien und schaut Fotos einer Berglandschaft an. Es ist Kok-Zhajljau, ein Naturschutzgebiet in den Bergen ganz in der Nähe von Almaty, mit einer halbstündigen Busfahrt zu erreichen. In diesem geschützten Gebiet soll ein Ski-Resort gebaut werden. Und auch dagegen regt sich Widerstand, eine weitere Internetgruppe mit mehr als tausend Mitgliedern. Dmitrij Zhukov zählt zu den Aktivisten.

"Ich hatte mich früher schon mal in einer Internetgruppe für ein fahrradfreundliches Almaty und für eine umweltbewusstere Verkehrspolitik engagiert. Darüber erhielt ich dann die Einladung, sich der Gruppe zum Schutz von Kok-Zhajljau anzuschließen. Ich bin ihr sofort gefolgt, denn ich kenne die Stadt gut, ich kenne Kok-Zhajljau, und diesen Ort zuzubauen, halte ich für unzulässig. Er ist mir persönlich sehr viel wert, und außerdem kann man es in Almaty ohne diese Erholungsmöglichkeit schlicht und einfach nicht aushalten."

Dmitrij Zhukov sagt das auch in Fernsehkameras. Er werde deshalb oft auf der Straße angesprochen, erzählt er. Sein Arbeitgeber toleriere sein Engagement – vermutlich, weil die Bank nicht an dem Projekt beteiligt sei. Dmitrij Zhukov meint, die Umweltgruppe wachse ständig. Allerdings gibt es bisher wenig Zeichen dafür, dass die Regierung Kasachstans auf das Engagement der Bürger reagiert.

"Ehrlich gesagt, habe ich ständig Angst, dass wir das Skigebiet nicht verhindern können. Aber zugleich weiß ich: Wenn wir nur tatenlos zusehen, dann wird das Projekt auf jeden Fall verwirklicht. Und ich werde ein schlechtes Gewissen haben, weil ich nichts dagegen unternommen habe."
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