Das Ende moralischer Instanzen

Moderation: Vladimir Balzer · 15.08.2006
Die Schriftstellerin Juli Zeh hat die Bedeutung von Günter Grass relativiert. Im Deutschlandradio Kultur sagte die Autorin von "Adler und Engel", Grass sei für ihre Generation keine moralische Instanz. Es gebe sie für jüngere Leute in der Literatur ohnehin nicht mehr. Die derzeitige Diskussion um ihn sei durch die Medien inszeniert und aufgebauscht.
Balzer: Wir sind mittendrin, mittendrin in einer moralisch geprägten Diskussion um Deutschlands bekanntesten Schriftsteller. Günter Grass hat seine, wenn auch kurze, Mitgliedschaft in der Waffen-SS offenbart und die Wellen schlagen hoch. Ist er jetzt damit beschädigt, ist sein Werk beschädigt? Muss man jetzt alles in einem neuen Licht sehen? Fragen, die zurzeit gestellt werden. Wir stellen jetzt mal eine andere: Was sagen eigentlich die Jungen? Ist Grass für sie, für die jungen Schriftsteller, überhaupt eine Instanz, die noch demontiert werden kann? Was regt die jungen Autoren auf, die Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS oder die Aufregung darüber?

Fragen wir Juli Zeh, Jahrgang 1974. Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation, bekannt geworden mit dem Roman "Adler und Engel", übersetzt in 27 Sprachen. Seitdem hat sie mehrere Bücher veröffentlicht. Ihr aktuelles ist eine Sammlung von Essays. Sie diskutiert darin aktuelle Themen von Politik und Gesellschaft und nicht zuletzt die Frage nach dem Zusammenhalt der Generationen. Und Juli Zeh ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag!

Zeh: Guten Tag!

Balzer: Frau Zeh, wie haben Sie eigentlich reagiert, als Sie von der Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS gehört haben?

Zeh: Ich hab von dieser Mitgliedschaft schon gehört, bevor es als Zeitungs- und Medienskandal aufgebauscht worden ist und ich habe mit erstaunlicher Gleichgültigkeit reagiert, nämlich überhaupt nicht verstanden, dass das jetzt Stein des Anstoßes ist, sondern hab eigentlich nur gedacht, huch, ich dachte, er wär bei der Wehrmacht gewesen, und das war es. Keine weitere emotionale Reaktion.

Balzer: Sie meinen vor dem Aufbauschen, das heißt am Samstag in der Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"?

Zeh: Genau, also ich wusste das schon vorher. Denn das Buch ist ja als Belegexemplar schon länger im Umlauf, das heißt, es gab die Möglichkeit, von dieser Tatsache schon zu erfahren. Und ich hab das eben von Bekannten gehört, die das Buch hatten als Belegexemplar.

Balzer: Offenbar Kritikerkollegen.

Zeh: Genau, aus den Redaktionen.

Balzer: Und die haben da nicht weiter drauf reagiert.

Zeh: Nee, weil es denen ähnlich gegangen ist wie mir selber. Das waren eben auch Vertreter der jüngeren Generation, so Anfang 30. Und die fanden diese Information zwar interessant, aber haben das mehr als eine Detailfrage behandelt, weil ja die Tatsache, dass Grass in seinen ganz jungen Jahren von der Naziideologie quasi infiziert war, schon lange bekannt ist. Und deswegen hat jetzt die Enthüllung, dass es nicht die Wehrmacht, sondern die Waffen-SS gewesen ist, bei der er damals kurz Mitglied war, bei uns jetzt nicht für so eine Aufregung gesorgt.

Balzer: Und ändert die Aufregung darüber, die es ja jetzt gibt, die ja wirklich sozusagen durch alle Medien auch geht, ändert diese Aufregung Ihren Blick auf dieses Thema oder bleibt es dabei, dass Sie das kühl und sachlich sehen?

Zeh: Das ändert meinen Blick überhaupt nicht, sondern es kommt nur noch eine Mischung aus Genervtheit und Wut dazu über die Art, wie so ein Aufruf funktioniert und wie er inszeniert und hochgekocht wird. Denn man merkt ja der Debatte ganz deutlich an, dass es den Teilnehmern der älteren Semester auch gar nicht um die Tatsache geht, dass Grass bei der Waffen-SS gewesen ist, sondern, was die Leute so erzürnt, ist die Tatsache, dass Grass es so lange verschwiegen hat.

Und bei mir entsteht der Eindruck, dass es ein rein sekundärer Medienstreit ist. Also die Öffentlichkeit fühlt sich verletzt, dass eine so öffentliche Figur wie Grass es gewagt hat, über Jahrzehnte dieses Detail zu verschweigen. Und mich nervt einfach dieser Anspruch und dieses Beleidigtsein darüber, dass jemand wie Grass es eben wagt, so eine Entscheidung für sich selbst zu treffen. Also das hat mit den moralischen Fragen, die die NS-Zeit betreffen, meiner Meinung nach überhaupt gar nichts zu tun.

Balzer: Aber ist er nicht auch eine moralische Instanz für viele?

Zeh: Also so weit ich für mich und Bekannte meines Alters sprechen darf, ist diese Annahme schon falsch. Also die moralische Instanz, die Grass möglicherweise mal gewesen ist, ist er glaube ich für die Generation über uns. Denn in meinem Bekanntenkreis wissen auch sehr interessierte und Zeitung lesende und literarisch interessierte Menschen oft überhaupt nicht, was Grass' Stellungnahmen zu bestimmten Themen sind. Das heißt, wenn ich die frage, wie findest du denn die Meinung von Grass jetzt quasi zum Karikaturenstreit oder ähnliches aktuelles Thema, dann kriege ich zu hören: Äh, was hat der denn gesagt?

Und wenn es eben so ist, dass die Äußerungen einer Person gar nicht mehr breit zur Kenntnis genommen werden, dann kann man einfach nicht von einer moralischen Instanz sprechen. Dementsprechend ist die Enttäuschung oder eben auch die Verletztheit in unseren Kreisen viel, viel geringer, weil Grass zwar geschätzt wird für bestimmte Dinge, für seine Literatur und dergleichen, aber nicht eben als so eine Art Papst der deutschen Republik empfunden wird.

Balzer: Aber so reagieren ja zumindest einige. Das ist ja eigentlich die Enttäuschung bei den meisten. Ich glaube, die wenigsten sagen, dass Problem sei die Mitgliedschaft selbst, sondern tatsächlich all seine Auszeichnungen: angefangen vom Nobelpreis über die Ehrenbürgerschaft von Danzig und all die Podien, die ihm auch immer wieder gegeben wurden, für seine Kritik.

Zeh: Ja, aber ich sehe nicht so richtig, auch wenn ich versuche, mich jetzt in jemanden hineinzuversetzen, der in den 60ern, 70ern schon die aufklärerischen Debatten um die Nazibelastung von öffentlichen Personen mitverfolgt hat, verstehe ich trotzdem nicht, warum man sich über dieses Detail jetzt auf diese Weise erhitzt. Denn wie schon gesagt, man wusste ganz genau Bescheid über Grassens Beziehungen zur nationalsozialistischen Ideologie. Das hat er immer sehr offen erzählt und erklärt, inwieweit er sich geändert hat, und er hat quasi auch seinen Gesinnungswandel exemplarisch für die ganze Republik vollzogen. Grass war eine Art Symbolfigur des deutschen Gesinnungswandels. Und dass er…

Balzer: War er damit glaubwürdig?

Zeh: Ja, ich finde er war damit glaubwürdig. Es wurde ihm ja auch geglaubt. Und er hat eben als Objekt dieses Gesinnungswandels, und das war natürlich nicht ganz ehrlich, eine Wehrmachtzugehörigkeit behauptet, weil er ganz genau wusste, und das hat er bestimmt richtig eingeschätzt, dass das Eingeständnis in den 60er oder 70er Jahren, dass er zur Waffen-SS gehört hat, das hätte für ein solch hysterischen Aufschrei gesorgt, da hätte ihm niemand mehr ruhig zugehört. Und wenn wir ehrlich sind dann wissen wir, dass er damals vernichtet worden wäre. Und zwar nicht aus moralischen Gründen, sondern als Reflex auf ein Tabu, was in diesem Land einfach sehr virulent gewesen ist.

Balzer: Das heißt, die Zeiten haben sich geändert.

Zeh: Ja, in diesem Punkt haben die Zeiten sich geändert. Wobei ich nicht meine, dass sich quasi der Blick auf die nationalsozialistische Zeit geändert hätte in dem Sinne, dass es jetzt allen egal wäre. Denn so ist es nicht, das gilt auch nicht für uns Jüngere, soweit ich das sagen kann. Aber man reagiert einfach nicht mehr ganz so hysterisch und nicht mehr so reflexhaft aufgeregt, wenn es um Beziehungen zu diesen Themen eben geht. Also man ist mehr in der Lage, das nüchtern zu sehen und sich ruhig zu überlegen, was macht das denn jetzt für einen Unterschied, ob er in der einen oder in der anderen Institution eingezogen worden ist und schaltet nicht direkt den Kopf aus vor lauter Aufwallung. Also man ist da einfach entspannter geworden in diesem sekundären Umgang.

Balzer: Aber wenn jetzt die Atmosphäre, also wenn man so will, besser ist, um sich darüber zu äußern über eigene Verstrickungen ins NS-Regime, würden Sie sich denn auch wünschen dann von einigen Altersgenossen von Ihnen, die vielleicht auch gar nicht so unbedingt prominent sein müssen, dass man da jetzt offener darüber redet?

Zeh: Ich finde, wir sind an einem Punkt angelangt, wo es keine öffentliche Notwendigkeit mehr gibt, an Hand von real existierenden Personen, die jetzt ja alle tatsächlich sozusagen das letzte Viertel ihres Lebens absolvieren, noch auf so eine exempelhafte Weise Abbitte zu hören. Wenn jemand allerdings persönlich das Bedürfnis spürt, so eine Beichte noch abzulegen, weil er eben einfach merkt, sein Leben geht zu Ende und er möchte gerne reinen Tisch machen und zwar auch öffentlich, dann soll er das gerne tun. Und ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn unsere Medienlandschaft etwas gelassener damit umgeht. Denn es ist wirklich wahnsinnig anstrengend, was in den letzten zwei Tagen passiert ist. Es wirkt auf mich auch heuchlerisch und damit einfach auch sehr unappetitlich.

Balzer: Denn es ist ja irgendwie auch bewegend, wenn man sieht, wie Günter Grass, ein großer, alter Mann, sich zum Ende seines Lebens hin bekennt und reinen Tisch machen will. Oder ist das doch eher das, was Sie gesagt haben, eher so eine Inszenierung, ein medienpolitisches Ritual, was da vonstatten gezogen wird, wenn man so will? Einige Kritiker sagen ja sogar, Promotion für sein neues Buch.

Zeh: Also, ich kenne Grass persönlich nicht gut genug, um tatsächlich einschätzen zu können, ob er so kalt wäre, das strategisch einzusetzen als eine Marketingkampagne für sein Buch. Ich wage es nicht, dieses Urteil zu fällen, weil ich es einfach nicht weiß. Ich vermute eher, dass es nicht so ist. Es ist aber tatsächlich so, dass Grass schlau genug ist und auch erfahren genug ist in diesem Betrieb, um zu wissen wie man so etwas platziert. Er hat es sicher nicht zufällig ausgerechnet bei der "FAZ" gemacht, also bei der Zeitung, die ihm eigentlich immer am kritischsten gegenüberstand. Er hat sich auch den Zeitpunkt dieser Äußerung sicherlich gut überlegt.

Von daher ist meine Rührung auf jeden Fall begrenzt, denn er hat das ja nicht irgendwie seiner Familie offenbart, seinen Töchtern und Söhnen, die das angeblich alle auch noch nicht wissen, sondern er setzt sich halt hin und gibt ein Interview, von dem er weiß, dass das Hunderttausende von Deutschen eben lesen werden. Emotional lässt es mich in seiner Gesamtheit eher ruhig, um nicht zu sagen kalt.

Balzer: Juli Zeh, noch ein Wort auch zu Ihnen selbst. Sie haben ja gesagt, dass Günter Grass zumindest für Ihre junge Generation keine moralische Instanz mehr darstellt. Wie ist es eigentlich bei Ihnen, in Ihrer Generation überhaupt mit sagen wir mal einer Instanz: Schriftsteller, Künstler. Ich habe gelesen in Ihrer Rede zum Ernst-Toller-Preis, die Sie gehalten haben, da steht drin: "Der Literatur kommt per se eine soziale und politische Rolle zu, weil es ein natürliches Bedürfnis der Menschen ist zu erfahren, was andere Menschen, repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren, denken und fühlen." Also ist der Schriftsteller doch eine Instanz?

Zeh: Der Zusammenhang, den ich da versucht habe zu beschreiben, der hat mit moralischen Zusammenhängen gar nicht so viel zu tun, sondern mir ging es eigentlich darum zu sagen, dass die Schriftstellerei, die Literatur per se eine bestimmte kommunikative Funktion erfüllt, die der des Journalismus unverwandt ist. Also sie fügt sozusagen der journalistischen Kommunikation etwas hinzu, was nur die Schriftstellerei leisten kann durch eine besondere Form der Identifikation, die der Leser mit den Figuren im Text eben hat. Moralische Instanz bedeutet aber etwas anderes, denn Grass ist das nicht durch seine Texte, sondern er ist es, weil er sich hinsetzt und seine Meinung verkündet. Und weil es dann eben Leute gibt, die glauben, er habe auf eine bestimmte Weise recht und er müsse quasi zu einem Meinungsführer gemacht werden, dem man dann geistig folgt.

Solche Instanzen gibt es, so weit ich das überblicken kann, in unserer Generation in der Literatur überhaupt nicht mehr. Und ich bin mir nicht sicher, ob man das beklagen muss. Denn wir haben eigentlich sehr lange daran gearbeitet, den Leuten zu erklären, dass sie ihren eigenen Kopf anstrengen sollen und sich nicht unterordnen sollen einer Meinung, die von irgendeiner Form von Instanz ihnen vorgekaut wird.

Man kann deswegen im Grunde diesen Unwillen der jüngeren Menschen, sich überhaupt mit moralischen Instanzen zu identifizieren, auch als Folge einer durchaus positiven und gewollten Entwicklung begreifen, weil es im Grunde ein aufklärerischer Effekt ist, wenn die Menschen mündig genug sind, um auch jemandem wie Grass einfach nicht mehr ohne weiteres zu glauben, sondern selber ihren Kopf anzustrengen.

Balzer: Die Diskussion um Günter Grass und um das Ende von moralischen Instanzen. Das war die junge Schriftstellerin Juli Zeh mit dem Blick ihrer Generation. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Zeh: Danke auch.
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