Das Drama des Lebens

09.04.2009
Das große zeitgeschichtliche Epos "Leben und Schicksal" konnte erst nach dem Tod des russischen Schriftstellers Wassili Grossman (1905 - 1964) erscheinen. Für den Band "Tiergarten" wurden 15 seiner Erzählungen, die die Arbeit am Roman begleiteten, ins Deutsche übersetzt. Sie beschäftigen sich mit den Themen Alter, Krankheit und Tod.
Wassili Grossman (1905-1964) begann seine Autorenkarriere in den Dreißiger Jahren als gläubiger Kommunist. Er war jedoch nicht in der Lage, sich mit theoretischen Überzeugungen zu begnügen. Er suchte die "Wahrheit" und die konkrete Erfahrung. Und fühlte sich als literarischer Zeitzeuge und Kriegsberichterstatter verpflichtet, ungeschönt von dem zu schreiben, was er sah und erlebte.

Dazu gehörten die Maschinerie des Terrors unter Stalin und das Grauen von Treblinka, die unsäglichen Opfer des Krieges gegen Hitlerdeutschland und der Kampf um Stalingrad, dem er das große Epos "Leben und Schicksal" widmete, ein Roman, der auch im poststalinistischen Russland keine Chance hatte und erst lange nach dem Tod des Autors zum weltliterarischen Ereignis wurde.

Nun sind in deutscher Übersetzung 15 Erzählungen von Grossman erschienen, die die Arbeit am Roman begleiteten. Alle schildern sie aufrüttelnde Begegnungen mit dem "Drama des Lebens": Alter, Krankheit, Tod; moralische Verfehlungen kommen hinzu. Interessant ist immer wieder die Darstellung des erheblichen sozialen Gefälles innerhalb der vermeintlich klassenlosen Sowjetgesellschaft. Eliten aus Kunst und Wissenschaft, Medizin und Verwaltung schotten sich mit ihrem beinahe "westlichen" Lebensstil ab vom Volk, dessen Grobschlächtigkeit sie allenfalls poetisch verklären. Besonders eindrucksvoll treffen die Sphären in der Erzählung "Im großen Moskauer Ring" zusammen, wo ein verwöhntes Mädchen bei einem Krankenhaus-Aufenthalt Einblicke in die Nöte und Lebensplagen einfacher Frauen gewinnt, ein Erlebnis, das sie nicht vergessen wird.

Das Humane ist zugleich das Kreatürliche. Das wird deutlich in den Tiergeschichten des Bandes. In "Die Straße" scheut sich Grossman nicht, die stumme, aber emphatische Leidensperspektive eines geschundenen Maultieres einzunehmen, das mit der marschierenden Armee vom italienischen Süden bis weit hinein nach Russland getrieben wird: eine ungewöhnliche Erzählung vom Zweiten Weltkrieg. In der Titelgeschichte "Tiergarten" wird die Schlacht um Berlin aus Sicht eines alten Tierpflegers im Zoo erzählt – und aus der Perspektive seiner Schützlinge, deren ungestillter Freiheitsdrang das humane Spurenelement ist, das den Menschen im Kampfinferno verloren gegangen scheint.

Grossmans Erzählkunst will ideologische Gräben überwinden. Ihn interessiert der Mensch mit seinen immer ähnlichen Problemlagen. In diesem Sinn sind auch die christlichen Motive seiner Erzählungen zu verstehen. Nicht nur in die deutsche Seelenlage unter dem Druck des agonierenden Faschismus fühlt er sich ein; in der Erzählung "Abel" aus dem Jahr 1953 schildert er auch den Atombombenabwurf auf Hiroshima, aus Sicht der amerikanischen Bomberbesatzung.

Der Stil ist unaufwendig. Mit wenigen Strichen werden die Figuren gezeichnet, und doch scheint immer das Entscheidende gesagt. "Aber wir haben das Menschliche im Menschen nicht sterben lassen" – das ist das Credo dieses Autors, das er auch durch Auschwitz und den Gulag nicht durchgestrichen sieht. Heutigen Ohren mag Grossmans humanistisches Pathos zunächst befremdlich klingen. Aber bald spürt man, welch existentielles Gewicht dahinter steht, welche Dringlichkeit an Erlebtem. Grossman preist die menschliche Güte, gerade weil er die ganze Macht des Unguten kennengelernt hat. Die Moral ist seiner Erzählkunst nicht übergestülpt, sondern durchdringt sie.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Wassili Grossman: Tiergarten. Erzählungen.
Aus dem Russischen von Katharina Narbutovic. Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Claassen, Berlin 2009. 315 Seiten, 24,90 €.