Das deutsche Reich und der Genozid an den Armeniern

Vorgestellt von Andreas Baum · 12.05.2005
Dieses Buch dokumentiert ausführlich die diplomatische Korrespondenz zwischen der Deutschen Reichsregierung in Berlin und ihren Botschaftern und Konsuln im Osmanischen Reich zwischen 1913 und 1921. Es sind die Jahre des Völkermordes an den Armeniern: Man schätzt, dass bis 1,5 Millionen Menschen sterben mussten.
Die Armenier haben über Jahrhunderte an den Grenzen der Großmächte Russland, Persien und des Osmanischen Reichs gesiedelt, ohne eigenen Staat. Bei jedem Konflikt saßen sie zwischen allen Stühlen. So auch im Ersten Weltkrieg: Der Vorwand für den Massenmord an den Armeniern Anatoliens war und ist bis heute deren angebliche Kollaboration mit Russland.

Eines der Anliegen des Buches ist es zweifellos, diese Legende zu widerlegen. Die Armenier gehörten zu den loyalsten Völkern im Osmanischen Reich, die sich mit den Türken quasi symbiotisch verbunden fühlten. Dass es auch zu Kämpfen zwischen bewaffneten Armeniern und der türkischen Armee gekommen ist, kann man getrost als Selbstverteidigung werten.

Darüber hinaus soll hier der Beweis geführt werden, dass die jungtürkische Regierung in Konstantinopel den Völkermord gezielt geplant hat und dass nicht, wie bisweilen bis heute behauptet wird, diese Menschen in den Wirren des Krieges ums Leben gekommen sind.

Die Rolle der Deutschen

Auf gut 100 Seiten Einführung von Wolfgang Gust, die den Ablauf des Genozids mit all seinen grässlichen Einzelheiten noch einmal dokumentiert, folgen mehr als 500 Seiten Akten aus dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Das Deutsche Reich verfügte damals über exzellente Verbindungen zur Türkei. Dies nicht erst, seit man im Ersten Weltkrieg Seite an Seite kämpfte, auch vorher wurden gute Geschäfte mit den Osmanen gemacht.

Berlin konnte sich also auf ein Netz von Diplomaten und Kaufleuten stützen, die regelmäßig über die Untaten an den Armeniern Bericht erstatteten. Ein großer Teil der Briefe und Noten kann man auch als Aufforderung, manchmal als flehentliche Bitte lesen, dem Bündnispartner am Bosporus in den Arm zu fallen und das Morden zu beenden. Ohne Erfolg: Das Zitat des Reichskanzlers, Theobald von Bethmann-Hollweg: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht," beschreibt am treffendsten die Haltung der Deutschen.

Ein Plädoyer für den unverstellten Blick auf die Fakten

Das Buch versucht auch zu klären, welche Mitverantwortung Deutschland für diesen Völkermord trägt. Es entsteht ein differenziertes Bild. Einerseits muss man einige Deutsche, etwa die Verbindungsoffiziere im Türkischen Heer, wohl als Mittäter bezeichnen. Die Reichsregierung hat sich durch Unterlassen schuldig gemacht.

Andererseits gibt es aber auch Deutsche, die vehement gegen das Verbrechen vorgegangen sind. An erster Stelle ist der Potsdamer Pfarrer Johannes Lepsius zu nennen, der schon seit der Jahrhundertwende ein Hilfswerk für die Armenier betrieb und während des Krieges bei der Regierung in Konstantinopel selbst versuchte, ein milderes Vorgehen gegen die Armenier zu erwirken.

Aber auch die Diplomaten selbst, deren Korrespondenz hier dokumentiert ist, haben damit etwas für die Armenier getan. Denn heute kann anhand dieser Quellen einwandfrei belegt werden, welchen mörderischen Charakter die Deportationsbefehle hatten.

Wichtig ist dies deshalb, weil Ankara bis heute bestreitet, dass es sich hier um einen geplanten Völkermord gehandelt hat. Nicht nur die Armenier, die heute über die ganze Welt verstreut sind, fordern, dass sich die moderne Türkei ihrer Vergangenheit und ihrer Verantwortung zu stellen hat.

Auch unter den Europäern gibt es nicht wenige, die sagen, dass dies die Bedingung für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ist. Dazu ist es nötig, mutig und ohne ideologische Brille auf die Fakten zu schauen. Dieses Buch kann dazu profunde Hilfestellung leisten.

Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16
Zu Klampen Verlag, Springe 2005
675 Seiten, 39,80 Euro