"Das darf nicht gefährdet werden"

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Katrin Heise · 08.09.2010
Für Wolfgang Thierse sind die Ziele der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) eine Herzensangelegenheit. Diese ist durch revanchistische Aussagen von Mitgliedern des Stiftungsrates gefährdet. Der Zentralrat der Juden kündigte seinen vorläufigen Rückzug aus dem Gremium an.
Katrin Heise: Im September 2008 beschloss die Bundesregierung die Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Sie soll unter dem Dach ihres Trägers, dem Deutschen Historischen Museum, ein sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung setzen. Geplant ist ein Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum. Aber über mögliche Inhalte, mit denen die Geschichte der europäischen Vertreibung aufgearbeitet wird, ist noch gar nicht richtig diskutiert worden. Bisher ging es immer um personelle Streitigkeiten. Das begann schon Jahre vor der Stiftungsgründung.
Und ich begrüße nun Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident, der sich seit Jahren für das Zustandekommen der Stiftung engagiert. Schönen guten Tag, Herr Thierse!

Wolfgang Thierse: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich sage: Die Ziele der Stiftung, das ist eine Ihrer Herzensangelegenheiten. Welche Chance geben Sie denn der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung noch, dass man diesen Zielen tatsächlich näherkommt?

Thierse: Ja, Sie haben ja in der Erinnerung an die Vorgeschichte dieses Projektes an dem Verlauf der Auseinandersetzungen beschrieben, wie schwierig das Thema ist. Der Rückzug oder der vorläufige Rückzug des Zentralrats ist verständlich, auch wenn ich ihn sehr bedauere, aber die Verantwortung dafür hat der Bund der Vertriebenen. Nach dem Streit, dem langen Streit mit dem Bund der Vertriebenen über dieses Projekt hätte der Bund der Vertriebenen doch wissen müssen, welche Mitglieder er dort in den Stiftungsrat entsendet, und eben nicht solche, die durch missverständliche oder gefährliche, hochproblematische Äußerungen die Besorgnis des Revanchismus wieder hervorrufen. Also es ist die Verantwortung des BDV, und er muss endlich begreifen, etwas ganz Wichtiges: Das, was wir da machen, ist nicht mehr das Zentrum gegen Vertreibung, wie es der BDV, wie es Frau Steinbach wollte, es ist jetzt ein Projekt des Bundes. Und Zweck der Stiftung, so steht es im Gesetz des Bundestages, ist, den Geist der Versöhnung, Erinnerung und Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert wachzuhalten und zwar im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Verbrechenspolitik. Das ist die Idee dieses Projekts, die ich unterstütze – Erinnerung um der Versöhnung willen. Und das darf nicht gefährdet werden durch problematische Vertreter des BDV.

Heise: ... die Sie, wie ich gelesen habe, im Juli aber noch, ja, mitgetragen haben. Sie haben Ihren Parteigenossen bei der Abstimmung über den Stiftungsrat ...

Thierse: Nein, das stimmt nicht. Wir haben bei der Wahl der Stiftungsräte ausdrücklich die Benennung dieser beiden Mitglieder kritisiert, namentlich kritisiert, ihre Äußerungen zitiert und das kritisiert. Aber wir wollen natürlich nicht, ich bitte dafür um Verständnis, dieses gesamte Versöhnungsprojekt an zwei Personen, an zwei problematischen Personen scheitern lassen. Da bin ich mir mit dem Staatsminister für Kultur einig, und ich hoffe auch sehr, ja, ich bin überzeugt, dass diese beiden die Arbeit des Stiftungsrates nicht wirklich gefährden können, denn die Mehrheit haben, denke ich, ganz vernünftige Leute.

Heise: Das heißt, wie kann man jetzt verfahren? Soll man sie drin belassen?

Thierse: Nein. Ich bin dafür, dass der BDV die beiden kritisierten Stellvertreter – es sind ja nur stellvertretende Mitglieder – zurückziehen sollte.

Heise: Wird er das tun?

Thierse: Das weiß ich nicht. So wie ich den BDV kenne, dauert das wieder sehr lange, und ich hoffe sehr, dass die werten CDU-Kollegen da Einfluss auszuüben versuchen auf den BDV, dass er an dieser Stelle Vernunft walten lässt, damit endlich ein Projekt zustande kommt, das jedenfalls die intelligenteren, differenzierteren Mitglieder und Vertreter des BDV und die Vertriebenen und ihre Nachfahren, die nicht im BDV sind – und das Letztere ist die Mehrheit –, ein solches Projekt, das sie dann auch verfolgen können, vertreten können. Ich hoffe sehr diese Kräfte dann auch die Oberhand gewinnen.

Heise: Glauben Sie tatsächlich, dass man dem Anspruch auf Aufklärung über geschichtliche Wahrheiten zu Frieden und Versöhnung zwischen Deutschland und den Nachbarn, dass man dazu diesem Anspruch noch gerecht werden kann?

Thierse: Warum nicht, wenn wir fertigbringen, jetzt endlich den Stiftungsrat arbeiten zu lassen, die Neukonstituierung soll ja im Oktober stattfinden. Dann muss ein neuer wissenschaftlicher Beirat berufen werden, der richtig besetzt werden muss mit hochrenommierten, auch internationalen Wissenschaftlern, damit jeder Verdacht der Einseitigkeit beiseite geräumt wird. Dann muss endlich – die Stiftung gibt es ja nun schon seit gut einem Jahr, aber arbeitet sie? –, es muss endlich ein Konzept für die Ausstellung vorgelegt werden, die muss dem wissenschaftlichen Beirat vorgelegt werden zur Diskussion, dem Stiftungsrat und dann der Öffentlichkeit, damit die Öffentlichkeit darüber breit, intensiv und differenziert diskutieren kann, möglichst wiederum unter internationaler Beteiligung. Das würde alles diesem Stiftungszweck dienen.

Heise: Das soll ja jetzt eigentlich oder sollte ja jetzt eigentlich im September auch passieren, da sollte das Ausstellungskonzept erstmalig präsentiert werden. Die Eckpunkte sollten dann im Oktober eben von dem sich konstituierenden Stiftungsrat beraten werden. An diesen Zeitplan ist doch jetzt schon wieder wahrscheinlich überhaupt nicht möglich, sich zu halten.

Thierse: Also Sie müssen Herrn Kittel fragen, was da passiert. Ich warte auch auf ein Konzept, das man dann diskutieren kann, und das nicht im Verborgenen bleibt, sondern das öffentlich, wissenschaftlich, politisch debattiert werden kann. Das muss jetzt stattfinden. Ich höre: Morgen wird es eine Diskussion unter Wissenschaftlern geben, die Mitglieder der Deutsch-Tschechischen und der Deutsch-Slowakischen Historikerkommission haben sich zusammengesetzt, um Ideen für ein solches Konzept vorzulegen und diskutieren zu lassen. Das findet morgen statt. Was da geht – warum geht es nicht innerhalb der Stiftung, innerhalb unter Führung von Herrn Kittel? Ich bin sehr neugierig.

Heise: Ich spreche mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse über die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Herr Thierse, im Mai haben Sie nach einer Reihe von Rücktritten aus dem wissenschaftlichen Beirat in einem Essay in der Zeitung "Die Welt" gestöhnt am Anfang des Essays: "Hört der Streit denn niemals auf?" Am Schluss haben Sie dann daran erinnert, dass die jahrzehntelange Debatte beim Holocaustmahnmal eigentlich nicht geschadet hätte. Lässt sich das tatsächlich übertragen auf die Auseinandersetzung, die wir jetzt seit Jahren um die Stiftung erleben?

Thierse: Es war ein Hoffnungssatz: dass in Deutschland über alles sehr lange und sehr intensiv gestritten wird und manchmal, vielleicht nicht immer, am Schluss wirklich was Gutes herauskommen kann. Dass dieses Thema, Vertreibung und Flucht im Europa des 20. Jahrhunderts, politisch, moralisch und umstellt ist, auch von Emotionen überlagert ist, Verdächten ausgesetzt ist – das ist ja nicht wirklich überraschend. Das muss man austragen, das darf ja nicht dazu führen, dass dieses wirklich dunkle, schwierige Kapitel deutscher, europäischer Geschichte verdrängt, tabuisiert wird. Wir wissen: Verdrängung, Tabuisierung hilft nie, macht eher krank. Also: Darüber zu debattieren – aber möglichst mit dem Ziel der Versöhnung, möglichst einer präzisen geschichtlichen Aufarbeitung, die nicht alte Vorurteile, alte Ressentiments wiederholt –, das, glaube ich, ist die Aufgabe. Und sie kann trotzdem, trotz allen Ärgers gelingen, wenn endlich der BDV begreift, dass er nicht Eigentümer dieser Geschichte ist, dass er nicht allein zuständig ist für die Verwaltung der Erinnerung an dieses Kapitel, sondern dass wir mit der Entscheidung des Bundestages dieses Projekt zu einem gesamtstaatlichen Projekt gemacht haben, für das der Bundestag und die Bundesregierung die Verantwortung trägt, und nicht mehr der BDV.

Heise: Jedes Mal, wenn es um Personal geht, was der Bund der Vertriebenen oder welches der Bund der Vertriebenen stellt, wird, wenn es kritisiert wird, danach ein Kompromiss notwendig, der dann wieder von anderer Seite sagt: Es wird ja immer alles mehr aufgeweicht. Das heißt, jetzt ist ja auch wieder ein Kompromiss notwendig.

Thierse: Ja, was heißt Kompromiss. Die Erweiterung der Zahl der Vertreter der BDV im Stiftungsrat ist das Ergebnis einer Erpressung seitens von Frau Steinbach, und dieser Erpressung hat sich die Kanzlerin gebeugt. Ich halte das für traurig. Das war nicht notwendig. Und man sollte sich auch nicht weiterhin solchen Pressionen beugen, sondern ich wünsche mir sehr, dass wir endlich aus den Personaldebatten herauskommt und in der Sache diskutieren. Da wird es auch naheliegenderweise viele Kontroversen noch auszutragen geben, aber die können dann produktiv sein. Der Personalstreit ist selten produktiv.

Heise: Aber eine Diskussion, die von so starken Worten begleitet ist wie von Ihnen eben "Erpressung"?

Thierse: Na ja, gut, das bezog sich auf den vergangenen Vorgang, dass ja Frau Steinbach unbedingt in den Stiftungsrat wollte und nur verzichtet hat, wenn die Zahl der BDV-Vertreter im Stiftungsrat größer wird. Das war eine Art von Pression. Das kann man nicht anders und netter bezeichnen. Sie war damit erfolgreich, das ist jetzt ausgestanden. Aber die Verantwortung des BDV, dort Vertreter hinzusenden, die nicht durch falsche, gefährliche, dumme, intrigante Äußerungen bezogen auf die Geschichte zu Fehlinterpretationen, zu neuen Verdächtigungen Anlass geben – diese Verantwortung kann man dem BDV nicht abnehmen.

Heise: Wolfgang Thierse zum momentanen Stand der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Der Zentralrat der Juden lässt seine Mitarbeit im Stiftungsrat momentan ruhen. Vielen Dank, Herr Thierse, für das Gespräch!

Thierse: Auf Wiederhören!
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