Das Buch des Lebens

Von Arndt Reuning · 11.02.2009
Schon Charles Darwin listete in seinem vor 150 Jahren erschienen Hauptwerk "Die Entstehung der Arten" unzählige Tier- und Pflanzenarten auf. Jetzt machen sich Biologen daran, die Gesamtheit aller bekannten Spezies in einer einzigen riesigen Datenbank zu erfassen: eine Inventarliste des Lebens. Diese soll im Internet veröffentlicht werden, so dass jeder Zugriff auf die Informationen hat.
Es riecht nach Mottenpulver - in der Insekten-Sammlung des Nationalen Naturkundemuseums in Washington DC. Dort wo Besucher normalerweise nicht hinkommen. Der Biologe Dr. Oliver Flint tippt auf ein paar schwarze Knöpfe an der Stirnseite eines Archivschrankes. Der rollt zur Seite. Hinter einer langen Reihe von Türen lagern glasbedeckte Schubladen, in denen unzählige Nadeln mit Insekten stecken.

"Aha, das sind Fliegen. Ein paar Hunderte sind hier drin, perfekt angeordnet. Die genaue Bezeichnung, das Herkunftsgebiet. Die hier sind noch gar nicht identifiziert. Wahrscheinlich neu entdeckte Arten."

Ungefähr zwanzig dieser Archivschränke stehen hier, voller Fliegen, Libellen, Käfer. Und das ist nur eine Etage, noch zwei weitere beherbergen den Rest der Insekten-Sammlung.

Einige zehn Millionen Exemplare lagern hier, schätzt Dr. Flint. Alleine der Umfang dieser Sammlung lässt erahnen, welche Arbeit es gewesen sein muss, die Exemplare komplett zu katalogisieren. Und eine ähnliche Mammutaufgabe kommt nun auf einen Kollegen des Forschers zu, auf Dr. Jim Edwards, der in seinem fensterlosen Büro tief im Museumsgebäude an seinem Computer sitzt. Sein Ziel ist es, einen Großteil der Insektenarten digital zu erfassen. Und nicht nur diese.

"In unserem Projekt wollen wir so viele Informationen wie möglich über alle bekannten Arten von Lebewesen bündeln und im Internet veröffentlichen."

Jim Edwards ist der geschäftsführende Direktor der "Encyclopedia of Life", eines Universal-Online-Lexikons, das einmal alle Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, sogar Viren verzeichnen soll, die der Wissenschaft bekannt sind. Ungefähr 1,8 Millionen Arten sind das. Vom Afrikanischen Elefant bis zur Gewöhnlichen Gelbflechte. Von der Gemeinen Alraune bis zum Atlantischen Nordkaper. Für ungefähr die Hälfte davon sind bereits eigene Seiten unter www.eol.org öffentlich zugänglich, mehr oder weniger mit Inhalten gefüllt.

"Auf der Homepage haben wir hier oben eine Leiste mit Bildern einiger Organismen. Die Auswahl ändert sich ständig, sie ziehen langsam am Betrachter vorbei. Entdeckt man also vielleicht einen Käfer, der interessant aussieht, oder diese Pflanze hier oder diesen Hai, kann man direkt drauf klicken und kommt so zu der Seite dieser Spezies."

Natürlich kann man auch ganz gezielt nach speziellen Tier- und Pflanzenarten suchen - mit dem biologischen Fachbegriff auf Lateinisch oder mit dem umgangssprachlichen Namen.

"Ich bin jemand, der sich gerne mit Salamandern beschäftigt, mit Amphibien. Also tippe ich jetzt mal ein: 'Marmor-Querzahnmolch', klicke auf finden - und schon bin ich auf der entsprechenden Seite. Ich erfahre hier den wissenschaftlichen Namen, Ambystoma opacum. Normalerweise ist mindestens ein Bild dabei, das fehlt hier aber noch. Eine Karte mit dem Verbreitungsgebiet, Kommentare zu dieser Tierart, Informationen über sein Aussehen, sein Verhalten, seine Fortpflanzung und Lebenszyklus, ökologische Hinweise und so weiter."

Für einige Tierarten lassen sich auch Videos abrufen. Zum Beispiel zeigt ein kurzer Film, wie ein Wanderfalke seinen Nachwuchs füttert. All diese Informationen bündelt die Encyclopedia of Life aus bereits vorhandenen Datenbanken, die sich zum Beispiel auf nur eine Klasse von Lebewesen beschränken, wie etwa das Online-Archiv Fishbase.

Sechs Institutionen bilden den harten Kern des Projekts. Die Encyclopedia of Life soll als Universalportal dienen, von dem aus all diese Informationen in einem einzigen Schritt abgerufen werden können. Damit könnte auch vermieden werden, dass ein und dieselbe Tier- oder Pflanzenart verschiedene Namen erhält.

"Ein Forscher findet irgendwo auf der Welt eine neue Spezies und beschreibt sie. Ein paar Jahre später bricht ein zweiter Wissenschaftler auf, findet ebenfalls diese Art, weiß aber nichts von der früheren Veröffentlichung. Also vergibt er einen neuen Namen für das Lebewesen. Wir gehen davon aus, dass durchschnittlich auf jede bekannte Spezies fünf bis sieben unterschiedliche Namen kommen. Und die müssen wir natürlich alle durchsehen."

Die Encyclopedia of Life kann auch wichtige Hinweise auf eingewanderte, schädliche Tier- und Pflanzenarten liefern, Informationen zu den Auswirkungen des Klimawandels und zur Veränderung von Lebensräumen. Auf zehn Jahre ist das Mega-Projekt zunächst ausgelegt. Das zweite Jahr hat gerade begonnen. Die Arbeit wird den "Enzyklopädisten" also wohl nicht so schnell ausgehen.