Das blaue Wunder bei minus 50 Grad

Von Eleftheriya Yuanidis · 21.11.2009
Die Erdgastrasse Westsibirien-Westeuropa dehnt sich über mehr als 20.000 Kilometer aus. An diesem Projekt haben Hunderttausende Menschen unter schweren Bedingungen gearbeitet; einige von ihnen waren Ostdeutsche. In der Langen Nacht erzählen sie über das Leben an der Trasse.
In den Legenden der sibirischen Völker wartet Tussawej, ein guter Riese, auf seine Befreiung. Er besaß das blaue Feuer und schenkte den Menschen Wärme und Licht. Weil er von einem bösen Vogel angegriffen wurde, versteckte er sich unter der Erde. Am 21. September 1953 haben die sowjetischen Geologen ihn entdeckt und das blaue Feuer hervorgeholt.

Mittlerweile strömt das sibirische Erdgas über die Fernrohrleitung Tausende Kilometer weit, bis in die Westeuropäischen Länder und Hunderte Milliarden Kubikmeter jährlich.
Auf der 4451 Kilometer langen Strecke zwischen Urengoi und Ushgorod an der ukrainischen Westgrenze liegen inzwischen 150 Kilometer Rohr im Dauerfrostboden, 700 Kilometer in Sümpfen, 545 Kilometer verlaufen über Gebirge. 500 Flüsse wurden überquert, 200 Kilomtere Rohr liegt unter Wasser. Es wurden 40 Verdichterstationen gebaut.

Die Gesamtlänge der Erdgastrasse Westsibirien-Westeuropa dehnt sich über mehr als 20.000 Kilometer aus. An diesem Projekt haben Hunderttausende Menschen unter sehr schweren Bedingungen gearbeitet. Ein Teil von ihnen waren Ostdeutsche. In der Langen Nacht erzählen sie über ihre harte Arbeit und ein außergewöhnliches Leben an der Trasse, dass aber auch von der Tschernobylkatastrophe überschattet war. Es geht um die Rolle des Erdgases in der Wirtschaft und Politik weltweit und um die Dimensionen des russischen Erdgasprojektes.

Zwei russische Journalisten, Genrich Gurkow und Waleri Jewsejew, begleiten die Lange Nacht literarisch. Neben den Trassenliedern lässt die Musik die unendliche Weite und bizarre Natur Sibiriens spüren.
Mit Erdgas-Trasse oder Erdgastrasse bezeichnet man den Verlauf oder das Projekt der Errichtung einer Erdgasleitung, also einer Pipeline zur Beförderung von Erdgas. Sie führt selten vom Quellgebiet einer Erdgaslagerstätte direkt zum Verbraucher, sondern verbindet meist ein Fördergebiet über mehrere Verdichterstationen, auch Kompressorstationen genannt, sowie Verteilerstationen zu den Verbrauchern. Oft erstreckt sich eine Erdgasleitung über viele Tausend Kilometer. Weiterlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Erdgastrasse
Einige Jahre nach dem die letzte Naht gezogen, dass letzte Rohr in der damaligen Sowjetunion durch deutsche Monteure verlegt wurde, lebt die Trasse in uns immer noch. In Vereinen, im Internet, Clubs, in Interessengemeinschaften, und bei vielen Trassentreffen lebt der Pipeline Bau in unseren Erinnerungen weiter. Und wir können stolz sein auf das Erreichte. Stolz auf eine gute, harte Arbeit. Mehr dazu: http://www.erdgastrasse.de/
Auszug aus dem Manuskript:
"Warum ich fahre? Wie soll ich das sagen. Man ist ja nur einmal jung, und das dauert nicht allzu lange. Da möchte man diese beste Lebenszeit mit einer großen und wichtigen Angelegenheit verknüpfen. Da möchte man etwas vollbringen, wovon man später mit Stolz sprechen und woran man mit Freude zurückdenken kann."
Die Räder des Zuges rattern - Stunde um Stunde. Die am Abteilfenster vorüberfliegende Landschaft verändert sich kaum. Sie fällt durch nichts Besonderes auf, ist aber gleichzeitig erstaunlich weiträumig und lyrisch. In bezaubernder Weise vereinen sich zarte und luftige Konturen der Haine, endlose Felder und ein fahlblauer Himmel.
Im Abteil sitzen eine Frau und zwei Männer. Sie notieren ein Gespräch mit Sweta Raspaschnowa, einer schlanken, grauäugigen Stuckarbeiterin. Genrich Gurkow und Waleri Jewsejew sind zwei russische Journalisten, die bei der Zeitschrift "Smena" arbeiten. Die Jugendzeitschrift "Smena" - es bedeutet "Wechsel" - hatte eine Patenschaft über das neugegründete Städtchen Nowy Urengoi in Sibirien übernommen.
Die Journalisten Gurkow und Jewsejew bereisen Sibirien im Auftrag ihrer Redaktion schon seit Anfang der 70er-Jahre. Im Frühjahr 1978 begleiten sie 300 "Kämpfer" des sogenannten Allunions-Komsomolzen-Trupps. Komsomol ist die Jugendorganisation der KPdSU und schickt gerade ihre best ausgebildeten Mitglieder zur Erschließung des Erdgasvorkommens von Urengoi.
Genrich Gurkow, Waleri Jewsejew: Erdgas kommt aus Urengoi
Nur antiquarisch erhältlich
Auszug aus dem Manuskript:
"In der weißen Wüste wird eine drohende Schneewolke vom Wind gejagt, vorbei an Bäumen, deren Zweige vom Frost gekrümmt sind. Eine bizarre und eigenwillige Grafik. Minus 50 Grad Celsius. "Im Juni ist es für den Sommer noch zu früh, im Juli aber bereits zu spät", sagt man hier.

Auf den ersten Blick mutet die Landschaft trist und eintönig ein. Bei aufmerksamerem Hinsehen aber spürt man allmählich ihre unendliche und wehmütige Schönheit. Wenn die Tundra eintönig ist, dann wie der Ozean. Sieht eine Welle der anderen ähnlich? Schnee, soweit das Auge reicht. Hier und da Bäume. Was hat der Mensch hier zu suchen? Muss er wirklich um diese weiße Wüste kämpfen?"
So beschreiben Genrich Gurkow und Waleri Jewsejew ihre Eindrücke im Jahr 1983 in ihrem Buch "Erdgas kommt aus Urengoi". Apropos Urengoi! Wo liegt es genau? Was macht diesen Ort im endlosen Sibirien so attraktiv? Ja, die Frage "Was hat der Mensch hier zu suchen?" muss auch noch beantwortet werden.
Urengoi bezeichnet ein weiträumiges Gebiet, das zum noch größeren Tjumen zählt und in der Nähe des nördlichen Polarkreises liegt. Urengoi enthält große Erdgasvorräte. Seine Berühmtheit verdankt es aber dem gleichnamigen Abkommen, das die Sowjetunion mit westeuropäischen Ländern, Ende der 70er-Jahre geschlossen hatte.
Klaus arbeitet seit 35 Jahren an der Trasse:

"Nach heutiger Sicht und auch damals, als junger Mensch, muss ich einschätzen, das war eigentlich das Bauwerk des Jahrhunderts. Es war für die Verhältnisse der DDR ein Integrationsprojekt, wo alle Gewerke ineinandergreifen mussten. Alles musste bis zur letzten Minute stimmen, weil ja auch harte Termine waren, Gas wurde gebraucht. Aus diesem Grund war das eine echte Herausforderung für alle, die dort gearbeitet haben. Wir hatten ja stellenweise über 80 Unternehmen, die an den Projekten gleichzeitig beteiligt waren. Die mussten koordiniert werden. So was gab es im Bauvorhaben der DDR noch nie. Man muss davon ausgehen, das war ja nicht vor der Haustüre, sondern das war 2000 bis 3000 Kilometer entfernt. Und aus diesem Grunde heraus musste von der Zulieferung aus der DDR und natürlich auch die Koordinierung des Materials, was von der russischen Seite gekommen ist, musste bis auf den letzten Punkt stimmen. Natürlich gab es viele, viele Probleme, die gelöst werden mussten. Aber jedes Problem ist lösbar und wir haben es gelöst."
Als Zentrum eines der wichtigsten Erdgasfördergebiete Russlands gilt Nowy Urengoi heute inoffiziell als Hauptstadt der russischen Gasförderung, was die Stadt in jüngster Zeit zu einer der reichsten Städte Russlands gemacht hat. Weiterlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Nowy_Urengoi
Mansidichter Juwan Schestalow in seinem Gedicht "Das Lied der Erde"
Ich schenke euch Erdgasstöße,
Erdölbrodeln,
alte Worte.
Und ein Meer
von Licht und Wärme...
Ich, das Land der Mansi! ....
Meine Sprache:
Eingeflochten
wurde sie in eine Sprache,
die, von Diplomaten heute
und Politikern gesprochen,
aller Welt geläufig ist.
Kartenmaterial des Trassenvereins Erdgastrasse
Chronik des ZJO Erdgastrasse
Ein Gemeinschaftsprojekt ehemaliger Trassenerbauer
Auszug aus dem Manuskript:
Es war gerade die Nachwendezeit und die erwies sich als besonders hart vor allem für die Trassenleute, die sich erst an die neuen Verhältnisse in Deutschland gewöhnen mussten. Ihnen drohte nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch der Verlust ihrer privilegierten Stellung. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die mit angereisten Ehefrauen waren noch komplizierter.
Swetlana: "Arbeitsplätze gab es nicht. Sechs Jahre saß ich hier zu Hause. Ich habe versucht, da Vorstellungsgespräche, Vorstellungsgespräche. Es hat nichts gebracht. Manche haben richtig in die Augen gesagt: 'Nein, wie nehmen keine Ausländer.'"
Uwe: "Probier es, mach es. Gerade mit der Arbeitserlaubnis war das ein Theater. Auf dem Arbeitsamt hieß es immer: Such dir erst mal eine Arbeit, dann kriegst du eine Arbeitserlaubnis. Die Arbeitgeber haben gesagt: Ja, wenn du uns eine Arbeitserlaubnis bringst, können wir vielleicht dich mal einstellen. Also, das war so ein Spiel. Niemand wollte den ersten Schritt tun.""
Swetlana: "Hier in Regis wurde Netto gebaut, dann habe ich mich beworben. Danach kam, nach einem halbes Jahr, einen Brief vom Arbeitsamt: Ich muss mich unbedingt bei Netto bewerben. Habe ich noch mal gemacht. Wenn sie wollen, dann wollen sie. Ach kannst du sowieso ganze Sache … Danach rufen sie mich an und fragt mich, ob ich Interesse habe oder vielleicht habe ich schon eine neue Arbeitsstelle."
Uwe: "Es war natürlich schön, man hat es sich gefreut. Es war auch irgendwo eine Entlastung für mich. Die Jahre habe ich selber Geld verdient, wir haben von meinem verdienten Geld gelebt. Zur Zeit ist gerade umgedreht. Jetzt so wie es gekommen ist in Ordnung. Wenn ich Glück habe, finde ich wieder was und dann, denke ich mal, geht wieder aufwärts."
Swetlana: "Viele haben hier angefangen, richtig zu saufen. Die letzten zwei Jahre haben viele gut verdient über Westniveau. Ja, danach Arbeitslosigkeit. In den ersten Monaten konnte man von dem Arbeitslosengeld gut wohnen, leben. Aber dann nicht mehr. Irgendwann bis du in ALG II gerutscht, das heißt dann in Sozialhilfe - und da bist du durch. Ich kenne viele die hier, die angefangen haben, richtig zu saufen, voll drauf."
Ludmilla: "Eigentlich das hat mir überhaupt nichts ausgemacht. Ich bin da optimistisch. Ich weiß, es wird weitergehen. So schlecht geht es uns auch nicht. Es gibt Länder, die nicht mal was zum Essen haben, nichts zum Trinken und, und, und. Bei uns braucht keiner unter der Brücke schlafen, braucht auch nicht verhungern, solange man sich normal benimmt. Ich war erstmal bei meinem alten Betrieb und dann ab 1992 kam ich zu Siemens. Dann wurde ich arbeitslos und nach sechs Wochen habe ich wieder bei Siemens angefangen."
Helmut: "Mit der Arbeit ging gleich weiter. Ich war verheiratet, hatte einen Sohn und ich habe im Kraftverkehr gearbeitet. Das wurde durch einen westdeutschen Spediteur aufgekauft. Ich hatte schon Angst. Da ich ja einen Onkel und Tante damals in den Westen hatte und viel gehört hatte von Arbeitslosigkeit und wie man für alles kämpfen muss und so was. Ich habe mich nicht so sicher gefüllt, wie eigentlich zu DDR Zeiten. Gerade mit dem ganzen Sozialsystem. Ich meine, in der DDR waren wir abgesichert. Wenn man krank war, war da Rente und jetzt ist hinter allem ein Fragezeichen. Wie geht es dann weiter. Die Unsicherheit ist doch da bei mir."
Ludmilla: "Es kommt, so wie es kommt. Was Schlimmes kann uns nicht passieren. Wir haben im Prinzip alles. Nicht unbedingt viel. Aber das reicht vollkommen zum Leben. Manche haben es schlechter. Das ist meine Mentalität. Ich bin immer so. Da hilft nicht: irgendwo sitzen und heulen. Wenn es nicht klappt, dann gibt es ein Plan B, wenn nicht, dann C. Und Helmut? Ich habe viele Freunde aus Ukraine, Moldawien, Russland und so. Der passt schon ganz gut rein."
Wenn sie von der Trassenzeit sprechen, sagen viele, dass es eine Zeit war, die sie geprägt hat und die sie ihr Leben lang begleiten wird. Wie erlebt man das in einer Ehe? Spielt die Trasse in ihrem Leben und in ihrer Liebe immer noch eine Rolle?
Lutz: "Nein! Kann ich... Ich weiß es nicht."
Natalja: "Ich denke schon. Man hat viel mehr erlebt. Wenn man nur in einem Land ist, das ist ja das Alltägliche, immer das Gleiche. Aber wir haben schon so viel gewechselt von einem Standort zum Nächsten. Man musste immer wieder neue Kollegen kennenlernen. Und irgendwie dich da einarbeiten, sodass du Freunde gewinnen kannst. Oder auch die Fahrten in Urlaub nach Deutschland. Und erlebt man dann da was und hier was. Und das ist ja doch alles irgendwo was bleibt, dass man beides erlebt hat, ja. Das verbindet doch, denke ich mir mal, schon."
Michael: "Zum einen haben wir dadurch gemeinsame Erfahrung gemacht. Wir haben gemeinsame Freunde - viele, viele Menschen gemeinsam kennengelernt. Und ich will mal so sagen: Selbst wenn ich Kerstin da nicht kenngelernt hätte, mich hätten oder mich haben diese drei Jahre im Leben geprägt. Das muss man so sagen. Denn, was da an zwischenmenschliche Beziehungen oder wie man miteinander umgegangen ist, das ganze Umfeld, alles, es war, es war einmalig. So was erlebt man auch unter Kollegen, unter Mitarbeitern nie wieder, hat man nie wieder erlebt. Ich denke mal, diese gemeinsame Erfahrung, denke ich mal auch, das ist das, was geprägt hat. Auch in unserer Beziehung, unserem Umgang miteinander. Dadurch, dass wir vieles gemeinsam gemacht haben auch hinterher. Denn wie wir wieder zu Hause waren, haben wir vieles gemeinsam gemacht. Es war …meiner Meinung nach hat es uns geprägt, möchte ich doch sagen."
Kerstin: "Ja, würde ich auch so sehen. Kann ich eigentlich mich nur anschließen. Ich sage mal, durch diese Treffen, die jetzt hier wie jedes Jahr waren, jetzt nur noch alle zwei Jahre, wird auch unsere Liebe immer wieder neue aufgefrischt. Weil, das sind die Kumpels, die damals dabei waren, wie wir zusammengekommen sind, wie wir uns kennengelernt haben, mit denen wir die Zeit so überstanden haben, miteinander. Und das ist immer wieder wie vor 25 Jahren."
Wenn es unter ihnen auch Verlierer gibt, sind die Trassenleute eigentlich Steh-auf-Menschen. An der Trasse hatten sie ein Motto: "Geht nicht, gibt's nicht." Viele folgen diesem Motto immer noch. Es ist kein Zufall daher, dass die Arbeitslosigkeit unter ihnen am niedrigsten ist. Was besonders an diesen Leuten ist, dass sie immer in einer Aufbruchstimmung leben. Und ein Hauch von Idealismus und Romantik ist immer dabei. Viele sind in die Jahre gekommen, ohne wirklich alt zu werden. Sind sie auch im neuen Deutschland angekommen?
Swetlana: "Jetzt ja. Jetzt finde ich, rückblickend kann ich auch sagen: Alles überstanden, alles durch, guter Arbeitsplatz. Das kann man sowieso nicht 100-prozentig sagen, ob man den morgen noch hat oder nicht. Ich glaube, das überstehen wir auch."
Lutz: "Na, meine Frau ist glücklich und zufrieden. Jetzt lebt ihre Schwester mittlerweile auch in Deutschland. Die Schwiegermutter lebt bei uns auf dem Hof."
Natalja: "Es läuft alles so, wie wir es uns immer vorstellen. Wir haben mehr Glück wie Verstand, glaube ich manchmal."

Lutz: "Außer beim Losen."