Das Auge des Sprayers

Von Guylaine Tappaz · 25.01.2011
In Berlin kann man seit ein paar Wochen einem ziemlich seltsamen Wesen begegnen. Der Körper eine bunte Stange, obendrauf ein großes, rundes Auge. Regungslos steht es am Straßenrand und starrt jeden an, der vorbeigeht. Ursprünglich war der Einäugige ein Straßenpfosten, der Autofahrer daran hindern sollte, auf dem Bürgersteig zu parken. Die Idee, aus diesen leblosen, grauen Gehwegbegrenzungen kleine Zyklopen zu machen, hatte der französische Straßenkünstler Le Cyklop.
"In meiner Tasche habe ich Klebestoff, Zeitungspapier, Sprühdosen verschiedener Farben, meine Schablone, was zu essen – und das war's."

"Mein Ziel ist nicht Vandalismus. Und ich denke nicht, dass ich etwas mache, das gegen die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft gerichtet ist."

Nach einem typischen Sprayer sieht Le Cyklop nicht aus: Feine Metallbrille, gepflegter Dreitagebart und statt eines Kapuzenpullis eine Baskenmütze, die das lichte Haar verbirgt. Am Fuß des Berliner Fernsehturms hat er sich sieben Straßenpfosten vorgenommen. Die Kugel oben auf den grauen Metallpfosten übersprüht er mit weiß – so, dass der Eindruck entsteht, die Farbe würde noch herabfließen. Dann malt er mit Hilfe von Schablonen minutiös ein weit geöffnetes, grünes Auge – wie aus einem japanischen Manga.

"In Paris gibt es viel mehr solche Straßenpfosten als hier in Berlin. Es sind inzwischen über 300.000! Ich sah in diesen Kugeln auf den Pfosten immer Augen, die mich beobachten. Also habe ich diese Figur entworfen, die in der Stadt in Dialog mit den Menschen tritt – einfach so."

In Paris hat Le CyKlop zuletzt Pfosten einer Sackgasse in einen regelrechten Zoo verwandelt – wie immer ohne Genehmigung: Er bemalte nicht nur die Kugel mit dem Einzelauge, sondern auch die Stange - mit Tiermustern. Diese 90 urbanen, illegalen Zebras, Tiger, Giraffen und Kühe werden nun ein Jahr lang geduldet. Das haben Anwohner bewirkt – indem sie Unterschriften gesammelt haben. Doch wie reagiert die Polizei auf die Interventionen des CyKlops in der Stadt?

"Unterschiedlich. Einmal kommt sie, und ich fange an, mich zu rechtfertigen: Das sei Kunst und vergänglich. Dann sagt der eine Polizist: 'Ich will Sie ja nicht anschnauzen. Im Gegenteil! Ich mag, was Sie machen.' Der andere dann: 'Mehr Tiger!' Aber für alle Fälle habe ich immer eine Dose mit der Farbe der Pfosten parat. Wenn ich Ärger von der Polizei bekomme, übersprühe ich sie – und das war's."
Le Cyklop ist 43 Jahre alt, aber noch relativ neu in der Szene. Daher vielleicht seine angenehm undogmatische Herangehensweise an die Straßenkunst. Er wirkt gelassen, in sich ruhend. Schließlich hat er vor drei Jahren eine wichtige Entscheidung getroffen: Er kündigte seinen Job als fest angestellter Grafiker in einem Unternehmen.

"Mit 40 sehnte ich mich nach einer Veränderung. Ich wollte später nichts bereuen in meinem Leben. Wenn man allein in seinem Atelier oder hinter seinem Schreibtisch arbeitet, begegnet man nur Eingeweihten bei Vernissagen. Ich wollte zurück auf die Straße und mich an alle richten, an Kinder genauso wie an Ältere."

Passanten: "Ein Auge? Dat wart? Kunst? Kunst!"

Reaktion eines Lieferanten am Alexanderplatz, während Le Cyklop sprüht. Später fotografiert eine junge Berlinerin die bemalten Pfosten.

Im Gegensatz zu den meisten, sagt Le CyKlop, habe er nie aufgehört zu zeichnen. Als Jugendlicher malt er am liebsten auf der Straße, benutzt alles, was ihm zwischen die Finger kommt - Schablone, Acrylfarben, Farbpistole. Er studiert knapp zwei Jahre an der Ecole des Beaux-Arts in seiner Heimatstadt Le Havre in der Normandie. Dann bricht er das Studium ab. Er gründet eine Familie – heute hat er drei Kinder, sie sind 6, 10 und 16 Jahre alt – und er muss Geld verdienen. So wird Le CyKlop Werbegrafiker. An der Kunsthochschule fand er sich in dieser verschworenen Gemeinschaft "vermeintlicher Künstler" ohnehin nicht wieder. Bis heute betrachtet er sich nicht als Künstler.

"Ich bin einfach normal, wie alle anderen. Ich finde nur, dass jeder seine künstlerische oder vielleicht kulturelle Ausdrucksweise in sich finden kann. Diese verrückte Seite, die wir in uns haben, leben wir nicht genug aus."

Seine Kinder sind die ersten Fans der Einäugigen. Neben seiner Straßenkunst arbeitet Le Cyklop heute noch als Grafiker – aber freischaffend. Er kann nun seine Kunden auswählen. Darunter: das Kinderhilfswerk UNICEF und eine Sozialwohnungsbaugesellschaft.

"Ich habe Werbegrafik für jeden Möglichen, für alles Mögliche gemacht. Jetzt will ich mich über die pure Grafik hinaus einbringen."

Derzeit sucht Le Cyklop nach Kooperationen mit Städten, in denen er die tristen Straßenpfosten verschönern könnte – und dafür bezahlt werden würde. Das Material ist auf jeden Fall vorhanden ... und auch das Interesse: Ein paar seiner Figuren wurden schon in Galerien ausgestellt – samt Betonsockel. Einen Einäugigen hat sogar jemand für die eigene Wohnung gekauft. Der Preis: 800 Euro.

Homepage von Le CyKlop mit Fotos der Einäugigen