Das Aufeinanderprallen von "Eigenem" und "Fremdem"

03.11.2010
1996 propagierte Samuel P. Huntington den angeblich nötigen clash of civilizations. Er hatte die "Weltordnung" im Visier, und für einen Vordenker der größten Militärmacht folgt daraus: Krieg ist nicht die ultima ratio, sondern das Mittel der Wahl. Die Bush-Regierung hat die Vorlage nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 verwandelt. Afghanistan und der Irak sind bis heute besetzt.
Parallel zu dieser globalen Entwicklung ist in manchem westeuropäischen Staat die "innere Ordnung" ins Visier von Leuten geraten, die sie auch vor allem als brachialen Zusammenstoß verstehen wollen. Derzeit macht Thilo Sarrazin dafür mobil, wesentliche Rüstungsteile für seinen deutschen clash allerdings sind zollfreie Importe aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich und waren auch da schon keine Innovationen. Der "Untergang des Abendlands" steht seit knapp hundert Jahren an.

Der bulgarisch-französische Strukturalist Tzvetan Todorov legt jetzt ein Plädoyer gegen derlei Manichäismus und für Verantwortungsethik im Sinn von Max Weber vor. Für ihn steht sowohl global wie innergesellschaftlich "zuviel auf dem Spiel", wenn wir nicht endlich aufhören, Verschiedenheit, also auch Widersprüche, gar Konflikte einzudampfen auf die simple Dichotomie: "wir" oder "die". Zwar rücken sich dank der digitalen Revolution Menschen aus fernsten Fernen immer näher, zwar leben dank der Globalisierung "Archaisches und Ultramodernes, niqab und Stringtanga" nebeneinander, aber gleichzeitig sind Vernichtungswaffen inzwischen für jedermann zu haben, also buchstäblich demokratisiert. Dieses "Wir und Die" ist Todorovs Ausgangspunkt. Dem kolonialistisch-blutigen Aufeinanderprallen von "Eigenem" und "Fremdem" hatte er "Die Eroberung Amerikas" gewidmet. Jetzt untersucht er beides hier und heute - kulturell, soziologisch, anthropologisch, historisch, politisch.

Im westlichen Selbstbild sind wir die Zivilisierten und die anderen Barbaren. Die alten Griechen hatten die Welt nach dem Kriterium Sprache aufgeteilt - Leute, die nicht richtig Griechisch sprachen, wurden kurzerhand zu barbaroi erklärt, zu Stammlern. Sicher, jemand, den man nicht versteht, macht Angst. Die Angst vor Barbaren allerdings kann einen sehr schnell selbst zum Barbaren machen. Wie das geht, zeigt Todorov eindringlich an der Folter, die in Bushs Amerika re-legalisiert wurde. Es läuft einem beim Lesen kalt den Rücken hinunter, dabei sind die jüngsten "Wiki-Leaks" noch gar nicht erwähnt.

Selbst-Barbarisierung beginnt, wo etwas zum Krieg erklärt wird, das keiner ist. Todorov ist kein naiver Pazifist, er spielt vielmehr die antihumanen, antizivilisatorischen Folgen falscher Kriegserklärungen durch. Krieg ist "eine Außerkraftsetzung aller rechtlichen und moralischen Normen". Wie die sich schleichend, scheinbar im Namen von Zivilisation, Recht und Moral, vollziehen kann, zeigt Todorov am Mord an Theo van Gogh und am "dänischen Karikaturenstreit".

Er seziert beide Vorgänge und reibt sie an eben den "westlichen Werten", um zu untermauern, dass universell gültige zivilisatorische Werte gar nicht zu haben sind ohne kulturelle Vielfalt. Gegen "Barbaren", denen es vor beidem graust, sind militärische Mittel schlicht kontraproduktiv. Aber "wir" haben zwei andere, probate: polizeiliche und politische. Wir müssten allerdings endlich statt der Angst "andere politische Leidenschaften aktivieren".

Besprochen von Pieke Biermann

Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen
Aus dem Französischen von Ilse Utz
Hamburger Edition, Hamburg 2010
287 Seiten, 22 Euro