Jürgen Renn: "Das Anthropozän – Zum Stand der Dinge"

Wenig Worte über den nötigen Verzicht

Mehr als 5000 gebrauchte Plastiktüten am Strand von Niendorf in Schleswig-Holstein, Aufnahme vom Juli 2013
Es muss Schluss sein mit einem Lebensstil und einer Ökonomie, die die Erde nicht länger tragen kann © picture alliance / dpa
Von Susanne Billig · 10.02.2016
Die Herausgeber dieses Readers haben Aufsätze zusammengetragen über das vom Menschen bestimmte Erdzeitalter: ein gutes Dutzend geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven. Was fehlt allerdings sind Visionen und Mahnungen zur Umkehr.
"Odradek" heißt das seltsame Wesen, das Franz Kafka in einem kurzen Text beschreibt und das wie eine Zwirnspule aussieht: Es läuft ohne Ziel auf einem Beinchen umher mit nachhängendem Faden, wird vom Menschen selten bemerkt und wenn doch, dann strömt es eine unheimliche Macht aus.
In dem Aufsatzband "Das Anthropozän" versammeln die Herausgeber Jürgen Renn und Bernd Scherer ein gutes Dutzend geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die gegenwärtige Epoche. Das Buch geht auf ein zweijähriges "Anthropozän-Projekt" des Berliner "Haus der Kulturen" zurück und gruppiert seine Beiträge lose um den zentralen Begriff.
In seinem einleitenden Essay deutet der Philosoph Peter Sloterdijk das Wort als Anklage und Zuschreibung einer Täterschaft an den Menschen. Wer Anthropozän sage, spreche in apokalyptischer Logik vom "Ende der kosmischen Unbesorgheit". Der Mensch müsse sich wieder als Sterblicher verstehen auf einer Erde, die, wie der politisch sonst zwiespältige Autor hier wunderbar formuliert, "zu real ist, um die Rolle einer herkömmlichen Transzendenz auszufüllen, doch auch zu transzendent, um je zum Besitz einer einzelnen imperialen Macht zu werden".
Erst Sloterdijk und dann die Detailaspekte
Die nachfolgenden Aufsätze vertiefen sich in Detailaspekte, wie die Geschichte des Seerechts, die Frage, ob der Mensch in der Lage ist, über seine persönliche Lebenszeit hinaus zu planen, die geologische Relevanz des Begriffes Anthropozän, die Entstehung von Schrift, Landwirtschaft oder Kohlenstoffchemie und die unbeabsichtigten, eruptiven Implikationen der Wissensevolution.
Leider bleiben viele Texte seltsam offen und arbeiten keinerlei Konklusion heraus. Schon während der Berliner Konferenz hatte es wegen ihres mangelnden Interesses an konkreter Umweltpolitik heftige Kritik gegeben. Die frühere Grünen-Abgeordnete Eva Quistorp sprach damals vom Anthropozän als einem "neuen Modewort" und "Spielzeug für Forschungsprojekte und allerlei Kunstdialoge".
Genau dieses Gefühl schleicht sich auch bei der Lektüre des Buches ein: Was denken wir doch auf hohem Niveau über Klimawandel und Naturzerstörung nach. So viele kluge Überlegungen, so viel enthüllte Komplexität, solch ein dichtes Gewebe an gedanklichen Bezügen und schimmernden Wechselwirkungen zwischen Raffinerien, Rechtswesen und Wissensevolution. Noch an der Schwelle der Katastrophe ergehen wir uns in Detailbetrachtungen und entzücken uns an den Gebilden unserer geistigen Welten. Denn ein paar Worte fallen wenig in diesem Buch: Verzicht. Umkehr.
Kafkas Odradeks scheinen schon da zu sein
Es muss Schluss sein mit einem Lebensstil und einer Ökonomie, die die Erde nicht länger tragen kann. Am Ende sind es Franz Kafka und Jane Bennetts Aufsatz über ihn, die, obwohl von der Naturzerstörung am weitesten entfernt, die Problematik am schärfsten und kompromisslosesten in den Blick rücken: Sie werden uns holen, die Odradeks, die Zwischenwesen. Draußen schleichen sie jetzt vielleicht als Ratten und Kakerlaken umher, drinnen als ungute Ahnung, dass es so nicht weitergehen wird. Noch leben sie im Schatten unter unserem Radar. Dann aber liegt die Macht bei ihnen.

Jürgen Renn/ Bernd Scherer (Herausgeber). Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge
Mit Texten u.a. von Jane Bennett, Paul Edwards, Anne Peters und Peter Sloterdijk
Matthes & Seitz, Berlin 2015, 260 Seiten, 24,90 Euro

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