Das älteste Urmenschen-Skelett

Von Michael Stang · 04.10.2009
1992 entdeckten Paläoanthropologen in Äthiopien die ersten Fossilien einer frühen Menschenart, die völlig neue Einblicke in die Anfänge der Menschheit ermöglichten. 17 Jahre später ist das Mammutprojekt "Ardi" vorläufig beendet.
"Ardi” revolutioniert das Bild der Frühzeit der Menschen. "Ardi" ist der Spitzname eines Urmenschenskeletts, das ein internationales Paläoanthropologenteam in der äthiopischen Ebene von Armis, rund 230 Kilometer nordöstlich von Addis Abeba, ausgegraben hat. Die Fossilien stammen von einer Frau, die zu Lebzeiten ungefähr 120 Zentimeter groß und 50 Kilogramm schwer gewesen sein dürfte. Sie konnte zwar schon aufrecht gehen, war aber noch gut an das Leben in Bäumen angepasst.

Diese Woche präsentierten Forscher um Tim White von der Universität Berkeley in Kalifornien die 4,4 Millionen Jahre alten Funde. Was sich wie ein einziger sensationeller Fund anhört, ist das Resultat von 17 Jahren Schwerstarbeit. 1992 entdeckte Whites Team einen Zahn und Teile eines Armknochens eines bis dahin unbekannten menschlichen Vorfahren. Sie gaben ihm den Namen "Ardipithecus ramidus", was soviel heißt wie "Wurzel eines am Boden lebenden Affen". In den darauf folgenden Jahren kamen immer mehr Fossilien ans Tageslicht, darunter auch Reste eines Skeletts.

"Ardipithecus" wird nun zum ersten wirklichen Gesicht in der Geschichte der Evolution des Menschen werden. Bislang wussten wir nicht, wie Urmenschen vor den "Australopithecinen", zu denen auch die berühmte Lucy gehört, wirklich ausgesehen haben. Jetzt haben wir mit einem Schlag ein wichtiges Kapitel der Menschheitsgeschichte detailliert beleuchtet."

Stolz und Erleichterung schwingt in Tim Whites Worten mit. Nach Abschluss dieses Mammutprojekts wissen die Forscher nicht nur, wie diese frühen Menschen ausgesehen haben, sondern auch, wie die Umgebung dort aussah, welche Tiere und Pflanzen es gab. "Mit diesen Funden haben wir uns nun sehr nahe an die Stelle herangetastet, an der sich die Vorfahren von heutigen Menschen und Schimpansen getrennt haben und jeder seinen eigenen Weg gegangen ist." In der Regel stoßen Forscher bei Ausgrabungen in solchen alten Schichten nur auf winzige fragmentierte Fossilien, mit Glück finden sie auch mal einen Zahn oder Teile des Schädels eines Frühmenschen. Die Entdeckung eines zu großen Teilen erhaltenen Skeletts ermöglicht aber nun erstmals ein Gesamtbild dieses frühen Menschen.

Wer war "Ardi" und was sagt die kleine Urmenschenfrau über die Frühzeit der Menschheit aus? Rund 130 Knochenfragmente konnten die Forscher von ihrem Skelett rekonstruieren und damit beweisen, dass sie zwar schon aufrecht gehen konnte, aber noch lange nicht den grazilen aufrechten Gang heutiger Menschen entwickelt hatte. "Ihr aufrechter Gang war viel primitiver als der von Lucy. Ardi hatte noch flache Füße und einen abgespreizten großen Zeh. Es war also noch kein permanenter aufrechter Gang und das Laufen auf zwei Beinen war vermutlich noch sehr wackelig."

Erstaunlich sei auch, so Tim White, dass "Ardipithecus" ein wirklicher Mix aus sogenannten ursprünglichen und modernen Merkmalen ist. Das bedeutet, dass wesentliche "menschliche" Merkmale zwar noch fehlen, viele "äffische" aber nicht mehr - beziehungsweise gar nicht erst vorhanden waren. Ob "Ardipithecus" tatsächlich ein direkter Vorfahre heutiger Menschen ist, sei aber schwer zu beantworten. "Die Möglichkeit, dass auch andere Spezies in unserer direkten Ahnenlinie stehen, können wir nie ausschließen." Erstaunlich sei jedoch, so White, dass sie bei ihren Grabungen in Schichten aus dieser Zeit vor 4,4 Millionen Jahren sehr viele Individuen gefunden hätte, insgesamt 37. "Und alle sind zur selben Zeit am selben Ort in Äthiopien herumgelaufen und sie gehören alle zur gleichen Menschenart: "Ardipithecus ramidus". Nur weil Fossilien von anderen frühen Menschenartigen (Hominiden) fehlen, bedeutet dies nicht, dass es sie nicht gegeben hat. Aber es spricht vieles dafür, dass sich aus dieser Form irgendwann die Gattung "Australopithecus" entwickelt hat, zu der auch die berühmte Lucy gehört. Aus dieser ist dann irgendwann vor rund zwei Millionen Jahren unsere Gattung Homo hervorgegangen.

Spekulationen über solche Ahnenlinien seien momentan aber eher zweitrangig. Viel wichtiger sei das große Wissen über die Frühzeit der Menschen, das die Paläoanthropologen in diesem Teil Nordafrikas gewonnen haben. Demnach waren unsere Vorfahren viel weniger affenartig als bislang vermutet. "Ardi ist ein Mosaikwesen, also weder Affe noch Mensch. Sie ist einfach ein Ardipithecus".

Diese Erkenntnis ist völlig neu. Bislang konzentrierte sich die Suche nach dem letzten gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Schimpanse auf Fossilien, die Schimpansen ähnlich sind. Jetzt gebe es aber den Beweis, dass Schimpansen und Menschen jeweils eine hoch spezialisierte Gruppe bildeten und der letzte gemeinsame Vorfahre ein Mix aus beiden ist und nicht näher auf der Schimpansenseite stehe.

Erstaunliche anatomische Details entdeckten die Forscher an Ardis Händen und Füßen. Zum einen hat sie recht lange Finger, doch konnte sie nicht den für Schimpansen typischen Knöchelgang ausüben. "Sie ist also eher auf den Bäumen gelaufen, als dass sie dort gehangelt ist", sagt auch der deutsche Paläobiologe Friedemann Schrenk vom Forschungsinstitut Senckenberg, der gerade selbst im afrikanischen Malawi auf Ausgrabungen unterwegs ist. Ihre Füße zeigen bereits erste Anpassungen an das Leben auf dem Boden. Sie hatte zwar noch einen abgespreizten großen Zeh, mit dem sie gut greifen konnte, jedoch war ihr Fußskelett nicht so flexibel wie das von heutigen Menschenaffen. Damit konnte sie zwar aufrecht gehen, aber ein fehlendes Fußgewölbe lies vermutlich nur einen sehr wackeligen Gang zu.

Tim White und seine 46 Kollegen, die in insgesamt 11 Fachpublikationen im Magazin "Science" die Funde detailliert beschreiben, vermuten, dass die "Ardipithecus" seinen Lebensraum zu Fuß auf der Suche nach Nahrung durchstreifte. Das Laufen auf zwei Beinen habe sich vermutlich nicht erst in der Savanne entwickelt, sondern noch im bewaldeten Gebieten.

Aber die Knochen verraten noch mehr – auch Details aus dem Sozialleben. "Zu unserer Überraschung sahen wir, dass alle Eckzähne – und wir haben immerhin 20 gefunden, die gleich groß waren", fügt Tim White hinzu. Sie seien eigentlich davon ausgegangen, dass es bei diesen Hominiden deutliche Körpergrößenunterschiede – also großer Mann und kleine Frau - gegeben haben muss, aber Fehlanzeige. Die Eckzähne sind klein und diamantenförmig statt spitz und langwüchsig. Damit waren sie nicht zum Kämpfen oder Drohen geeignet – ein solches Merkmal sucht man bei heutigen Menschenaffen vergeblich. Dort verfügen die Männchen über gewaltige Hauer, die regelmäßig einsetzten, um sich Konkurrenten gegenüber zu behaupten.

Weil "Ardi" nur sehr kleine Eckzähne hatte, sprechen die Paläoanthropologen ihr und ihren Artgenossen ein eher friedliches Verhalten ohne schwere Rangordnungskämpfe zu. Ein solches soziales Gefüge könnte in der ostafrikanischen Lebenswelt ein Vorteil gewesen sein im gemeinsamen Kampf gegen Raubtiere. Vielleicht war diese eine entscheidende Entwicklung, die die Evolution der Menschheit voranbrachte.