Das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam

Von Claudia van Laak · 10.11.2005
Es gibt nur wenige Ausbildungsstätten für Rabbiner in Europa, eine einzige in Deutschland. Vor fünf Jahren wurde in Potsdam das Abraham-Geiger-Kolleg gegründet. Mittlerweile lernen hier zehn Studenten aus der ganzen Welt, darunter Südafrikaner, Schweden, Tschechen und Russen. Der Unterricht findet an der Universität Potsdam statt.
Die glänzenden Messingschilder am Hauseingang verraten, dass in dem unscheinbaren Bürogebäude ein Notar, ein Unternehmensberater, ein Arzt für Innere Medizin und das Abraham-Geiger-Kolleg zu finden sind. Um die jüdische Institution wird kein Geheimnis gemacht. Anders als bei anderen jüdischen Einrichtungen in Deutschland steht weder ein Polizist vor der Tür noch findet eine Eingangskontrolle statt. Jeder, der will, kann das Kolleg besuchen.

Das Neonlicht im Flur beleuchtet einen Wasserspender und eine ganze Reihe brauner Pappkartons. Niemand hat Zeit gefunden, Regale anzubringen und die gespendeten Bücher auszupacken und einzusortieren. Wie auch. Das Abraham-Geiger-Kolleg besteht aus gerade einmal einer Angestellten, einem Rektor, einem Unterrichtsraum und einer winzigen Bibliothek.

Im Unterrichtsraum – gleichzeitig Sekretariat – hängen Grußpostkarten aus Paris, Salzburg, London, Wien, Israel und vom katholischen Weltjugendtag in Köln. An der Wand ein Porträt des Namensgebers Abraham Geiger – im 19. Jahrhundert liberaler Rabbiner in Berlin, Vorkämpfer für eine Reform des Judentums und Mitgründer der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

Die sechs Studenten würdigen Abraham Geiger allerdings keines Blickes, ihre Aufmerksamkeit gilt dem Unterricht, der Übersetzung aus dem Alten Testament vom Hebräischen ins Deutsche. Die Männer küssen ihre Kippa und setzen sie auf. Das Seminar kann beginnen:

" (Hebräisch) Das wollen wir heute mal machen, um alle auf den gleichen Stand zu bringen. "

Hebräisch-Lehrerin Bettina Schwarz lässt die Texte reihum lesen und dann übersetzen. Boris Ronis hat sich einen kleinen Spickzettel gemacht. Als der 30-Jährige mit der Nickelbrille an der Reihe ist, wandern seine Augen immer wieder vom hebräischen Text auf den handschriftlichen Zettel.

" (Übersetzung) Und Sarah sagte zu Abraham, das Unrecht ist mit dir. Lehrerin: Was heißt das genau? Mein Unrecht liegt auf dir, das wäre wörtlich….In deinen Schoß habe ich meine Magd gegeben. "

Yuri Kadnykov ruft von hinten: Was heißt Schoß? Wer kann das auf Russisch, fragt Hebräisch-Lehrerin Schwarz in die Runde.

Mehrere Studenten: " Das ist der Platz, an dem Deine Tochter gerne sitzt. Kinderstuhl (Lachen). Nein. Oberschenkel. Nicht Oberschenkel."

Die Köpfe rauchen, es herrscht eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Die Tür geht auf und Rabbiner Walter Homolka tritt herein, der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs. Eine massige Gestalt in einem anthrazitfarbenen Anzug, einem leuchtend rosa, fast pinkfarbenen Hemd und glitzernden Manschettenknöpfen. Ein Fotograf will ein Porträt von ihm machen, aber Homolka hat seine Kippa, sein Käppchen vergessen.

" Kann mir jemand ein Käppchen leihen. Warte eine Sekunde, ich habe ein schickes für Dich. Du wirst begeistert sein, Fußball, ist schon für die WM."

Daniel Alter greift in seine Tasche und zieht eine Kippa aus der Tasche, die einen Fußball darstellt. Habe ich aus den USA mitgebracht, verkündet er stolz. Rektor Homolka lacht, nimmt aber für den Fotografen doch lieber die schlichte schwarze Kippa.

Nach eineinhalb Stunden anstrengenden Lesens und Übersetzens ist der Unterricht vorbei, die Luft in dem kleinen Unterrichtsraum verbraucht.

Bettina Schwarz: " Okay, dann war es das zum Einschmieren und auch um zu besprechen, wie wir weiter vorgehen, dann danke ich erst mal heute fürs Kommen. (Klopfen) "

Eine halbe Stunde Pause, dann geht der Unterricht weiter. Die elf angehenden Rabbiner haben ein volles Programm, sie müssen ein Doppelstudium absolvieren. Einerseits das ganz normale Magister-Studium an der Universität Potsdam. Hauptfach Jüdische Studien, Nebenfach Religionswissenschaften, das zweite Nebenfach ist frei wählbar.

Dazu kommt der Unterricht im Geiger-Kolleg. Psychologie und Seelsorge, Seminare über die Rolle des Rabbiners, ein Studienjahr in Israel und mehrere Gemeindepraktika. Rektor Walter Homolka reicht das Pensum noch nicht aus. Er will, dass die angehenden Rabbiner sich nicht abkapseln und in ihre Studien vergraben, sondern dass sie sich auch gesellschaftlich engagieren.

Homolka: " Es gibt viele Probleme, die Deutschland momentan zu bewältigen hat, und ich finde es wichtig, dass die jüdische Gemeinschaft sich als Teil dieser Gesellschaft daran beteiligt, dass man in dieser Gesellschaft die Rechte und die Pflichten wahrnimmt wie andere auch. "

Der 41-jährige Homolka ist eine beeindruckende Gestalt mit einer außergewöhnlichen Biographie. In Niederbayern geboren, trat er mit 17 dem Judentum bei, studierte dann allerdings evangelische Theologie. Als Investmentmanager legte er den ersten ökologisch orientierten Fonds auf, bei der Bertelsmann AG stieg er schnell zum kaufmännischen Direktor der Verlage Siedler und Albrecht auf, dann gab er ein kleines Intermezzo als Greenpeace-Geschäftsführer Deutschland um anschließend in der Kulturstiftung der Deutschen Bank zu arbeiten. Zwischendurch absolvierte Walter Homolka eine Rabbinerausbildung am Leo-Baeck-College in Großbritannien. Mehrere Gründe haben ihn dazu bewogen, sich für eine liberale Rabbinerausbildung in Deutschland zu engagieren:

" Eine Gemeinschaft, die fast am Absterben war mit etwa 20.000 Mitgliedern vor der Maueröffnung und eine Gemeinschaft, die dann auf 180 bis 200.000 anwachsen würde, ist eigentlich nicht mehr nur durch den Holocaust gezeichnet, sondern auch durch eine Stimmung, wo Menschen hierher kommen, weil das das Land ist, in dem Milch und Honig fließen. "

Ein Land mit einer rasant wachsenden Zahl jüdischer Mitbürger braucht eine eigene Rabbinerausbildung - davon ist Walter Homolka überzeugt. Eine liberale Ausbildung, die es auch Frauen ermöglicht, den Beruf des Rabbiners zu ergreifen.

" Ein konkreter Anlass war eine junge Frau, die in der Frankfurter jüdischen Gemeinde Mitglied war und die gesagt hat, ich möchte am Leo-Baeck-College studieren, und sie wurde auch dort angenommen. Damals hat ihr Ignatz Bubis mitgeteilt, man könne Frauen in Deutschland nicht gebrauchen, und das wäre herausgeschmissenes Geld, deswegen würde man ihr das Stipendium nicht gewähren. "

Die Zeit schien reif für eine Rabbinerausbildung in Deutschland. Und doch: Kann man im Land der Täter, kann man in dem Land, von dessen Boden vor 70 Jahren der Völkermord an den Juden ausging, wieder Rabbiner ausbilden? Nein, meinten viele ausländische Rabbinerkollegen von Walter Homolka:

" Ich kann mich sehr gut erinnern an eine Sitzung in Amsterdam, wo ich also diese Botschaft verbreitet habe, und mir dann ein Kollege gesagt hat, er fände es unanständig, dass ich mich hier hinsetze und ihm als Nachkomme und direktem Opfer erzähle, dass Deutschland nun sozusagen das Tor zum Himmel werden würde und er würde mir seine Freundschaft aufkündigen, weil er auf der Asche der sechs Millionen nicht das Thorastudium aufgebaut sehen wollte und ich muss ganz ehrlich sagen, da wird ihnen ganz anders."

Doch Walter Homolka und seine Mitstreiter warben weiter um Unterstützung und setzten sich durch. Trotz des Gegenwinds vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der Homolka vorwirft, mit dem liberalen Rabbinerseminar die jüdische Einheitsgemeinde in Deutschland spalten zu wollen.

Vor fünf Jahren wurde das Abraham-Geiger-Kolleg offiziell eröffnet, vor vier Jahren kamen die ersten drei Studenten. Mittlerweile sind es elf Anwärter auf den Rabbinerberuf, die ersten werden im nächsten Jahr ihr Studium beenden.

Aus dem Seminar: " Vielleicht können wir an der Stelle auf unser unspezifisches Vorwissen bezüglich antijüdischer Gewalt eingehen, was haben Sie für Vorstellungen über eine progromierende Masse in Bezug auf diese Frage der Regelgebundenheit, Herr Kucera?"

"Gewalt in der jüdischen Lebenswelt des östlichen Europa vom Mittelalter bis zum Völkermord", lautet der Titel des Seminars an der Universität Potsdam. Schwere Kost. Auch die Umgebung ist nicht gerade freundlich. Das Seminar findet in einem Container statt. Hartes Neonlicht strahlt von der Decke, billige Büromöbel und ein grauer Linoleumfußboden vervollständigen das triste Bild. Alina Treyher scheint das nicht zu stören, sie schreibt fleißig mit. Vor sich auf dem Tisch eine halbleere Mineralwasserflasche und ein buntes Federmäppchen.

An der Universität Potsdam fällt die junge Frau mit dem ebenmäßigen Gesicht und den kastanienroten, halblangen Haaren nicht auf. Sie trägt Fellstiefel, Jeans und eine rostrote Jacke aus Samt. Ihre Augenbrauen sind zu einem schmalen Strich gezupft, die Wimpern getuscht. Eine Studentin wie tausende andere auch.

Alina: " Auf jeden Fall ich studiere hier an der Potsdamer Universität als normale Studentin, wie alle anderen. Ich muss genau diese Leistungen wie alle anderen vollbringen, deshalb fühle ich mich ganz normal."

Es ist eher die Außenwelt, die Alina Treyher immer wieder darauf hinweist, dass sie eine Ausnahme darstellt, dass sie etwas Besonderes ist. Eine Jüdin aus der Ukraine, die in Deutschland studiert und hier die Smicha erhalten wird, die Ordination zur Rabbinerin.

Alina: " Judentum seit früherer Zeit ist eine männliche Welt und es ist ganz ungewöhnlich und selbst in den liberalen Gemeinden die Vorstellung von einem Rabbiner ist immer noch die traditionelle Vorstellung. Ein Mann wird von der Gemeinde eher akzeptiert und wahrgenommen als eine Frau."

Das hält die hübsche junge Frau nicht davon ab, ihrer Berufung zu folgen. Nicht laut und fordernd. Mit leiser Stimme und beharrlich.

Alina: " Ich weiß, dass ich es kann, ich kann nicht sagen, dass ich als Frau etwas schlechter mache als die Männer, auf diesem Niveau fühle ich mich ganz sicher in diesem Beruf."

Deutschland ist für die jüdische Studentin nicht in erster Linie das Land der Täter. Es ist ein freundliches Land, meint sie und vergleicht ihren Aufenthalt hier mit ihrem vorherigen Studium in Moskau, wo sie als Ukrainerin vergleichsweise schlecht behandelt wurde.

" Dort war es für mich viel stressiger, und es gab dort eine Art Feindschaft. Als ich hierher kam, es war für mich ein Paradies in dem Sinne, es war alles klar, ich habe eine Wohnung bekommen, ich habe ein Stipendium bekommen, ich hatte keine finanziellen Schwierigkeiten."

Yuri Kadnikov betritt die kleine enge Bibliothek des Abraham-Geiger-Kollegs. Die bis an die Decke gehenden Bücherregale verdunkeln das ohnehin dustere Zimmer noch mehr. Unter dem Fenster steht ein PC, neben der Eingangstür eine Garderobe, in der Mitte ein runder Tisch mit sechs Stühlen. Yuri hat ein kopiertes Skript in der Hand, einige Sätze sind mit Kugelschreiber unterstrichen. Mittelhochdeutsch, klärt der angehende Rabbiner auf, der im Nebenfach Germanistik studiert. Früher, in Russland, war es ihm körperlich unangenehm, jemanden Deutsch reden zu hören:

" Ja, ich war skeptisch gewesen, und als ich klein war, deutsche Sprache zu hören, das war schwierig, das war negativ, jetzt mag ich diese Sprache. Ich mag sie sprechen, lesen. Und das ist eine positive Leistung, der Mensch kann sich entwickeln, man kann andere Perspektiven sehen, man kann seine Wahrnehmung ändern. "

Yuri Kadnikov lächelt in seinen Vollbart hinein, auch wenn seine persönliche Situation im Moment alles andere als rosig ist. Yuri und seine Familie sind Opfer des deutschen Ausländerrechts geworden. Der 30-Jährige hat ein Visum, das für die Zeit seines Studiums gilt, und darf sich aus diesem Grund in der Bundesrepublik frei bewegen. Seine Frau Balina und seine knapp zweijährige Tochter Slata dagegen sind so genannte jüdische Kontingentflüchtlinge. Sie wohnen in einem Heim in Schwerin und dürfen Mecklenburg-Vorpommern nicht verlassen. Yuri hofft auf eine baldige Familienzusammenführung und verteidigt in der Zwischenzeit seine Wahlheimat gegenüber den russischen Freunden und Verwandten. Wie kannst du bloß nach Deutschland gehen, haben sie vorwurfsvoll zu ihm gesagt.

Yuri: " Ja, solche Gespräche waren immer (lacht), viele sagen, in Deutschland ist es gefährlich und ich sage, es ist nicht gefährlicher als in Russland."

Das meint auch Boris Ronis, der seit seinem vierten Lebensjahr in Deutschland wohnt. Die beiden umarmen und küssen sich zur Begrüßung – das Verhältnis untereinander ist freundschaftlich. Man redet Deutsch, Russisch oder Hebräisch miteinander, wie es gerade kommt.

Boris: " Das Kolleg ist neu, das Kolleg ist klein, wir sind übersichtlich und kennen uns sehr gut, jeder hilft jedem so gut er kann, wie eine kleine Familie."

In Deutschland eine Rabbiner-Ausbildung zu absolvieren, ist normal. Das versuchen die Studenten und Mitarbeiter des Abraham-Geiger-Kollegs zu vermitteln. Normal und gleichzeitig besonders.

Yuri: " Natürlich ist es etwas Besonderes, nach dem Krieg, nach der Shoa ein Rabbinerseminar in Deutschland, das ist etwas Besonderes, aber wenn wir beobachten ganze Geschichte, zum Beispiel der erste jüdische Einwanderer, das war 321 in Köln, es ist ein normaler Prozess. "