Darstellende Kunst

Skulptur, die zu Tränen rührt

"Christus an der Geißelsäule" in der Ausstellung "Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken" in Frankfurt am Main
"Christus an der Geißelsäule" in der Ausstellung "Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken" in Frankfurt am Main © picture alliance / dpa / Foto: Boris Roessler
Von Rudolf Schmitz · 01.10.2014
Glasaugen, rote Lippen, Echthaar – die Bildhauer der Antike und des Mittelalters griffen zu vielen Hilfsmitteln, um die Wirklichkeit nachzubilden. Dieser Ideenreichtum ist jetzt in der Ausstellung "Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken" im Frankfurter Liebieghaus zu sehen.
So etwas kennt man allenfalls aus süddeutschen Kirchen: Eine thronende Madonna mit Jesuskind, in einem Brokatgewand, genau wie das Jesuskind mit Glasaugen und echtem Haar. Beide tragen eine üppige Kupferkrone, die Lippen und Wangen der Madonna sind kräftig rot geschminkt. Eine Gliederpuppe und Prozessionsfigur aus Fischbachau, vom Ende des 17. Jahrhunderts. Sie eröffnet die Frankfurter Schau und macht schlagartig klar, das wir etwas übersehen und vergessen haben, wenn wir die Skulptur bloß als reine Form und idealisierte Natur verstehen.
Stefan RollerKurator: "Aber dass Skulptur über Jahrhunderte, Jahrtausende mit vielen Fremdmaterialien gearbeitet hat, das ist für uns nicht mehr im Gedächtnis. Damit haben wir einfach vergessen, was Kultur ausmachen kann und wie abwechslungsreich, wie vielfältig und wie bunt auch Skulptur sein kann“.
Panoptikum und Wachsfigurenkabinett
Die 52 Exponate der Ausstellung sind über das gesamte Liebieghaus verteilt und verwandeln es in ein Panoptikum, in ein Wachsfigurenkabinett. Es geht um "Verismus" im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende, also um den Drang nach möglichst wirklichkeitsgetreuer Abbildung: um eingesetzte Augen, um Echthaar, um Textilien, um Bemalung, um aus Knochen geschnitzte Zähne. Also um skulpturale Technik, die Schrecken, Erschütterung und Entzücken hervorrufen will. Ein verdrängtes Kapitel der Kunstgeschichte.
"Die Kunstgeschichte soll sich erst einmal im Klaren darüber werden, soll sich selber eingestehen, dass sie selber über viele Jahrzehnte indoktriniert worden ist, dass wir eigentlich immer noch diesem klassizistischem Ideal der farblosen und der idealisierten Skulptur hinter her hängen, und dass wir viele Dinge, viele Phänomene, viele Techniken einfach haben hinten runter kippen lassen."
Es ist noch immer schockierend, in der Griechenabteilung den bronzenen Krieger aus Riace zu sehen, in rotbrauner Hautfärbung, mit Augen aus farbigem Stein, Wimpern aus Kupferblech und Zähnen, die mit Silberfolie belegt sind. Eine Rekonstruktion des Liebieghauses. Und in Sichtweite die Aktfigur "Ariel" von John de Andrea, von 2011. Hyperrealismus, bemalt, und, kaum zu erkennen: ebenfalls aus Bronze.
"Wir verbinden mit bestimmten Materialien eine ganz bestimmte Ästhetik, Marmor hat weiß zu sein, Bronze hat braun und glänzend und abstrahierend zu sein, aber dem war über viele Jahrhunderte, Jahrtausende gar nicht so. In der Antike wird Bronze farbig gestaltet, möglichst realistisch ausgestaltet, mit Patina, mit Asphaltlack, mit eingesetzten Augen, da werden Chemikalien eingesetzt, um die Bronze ins Blaue, ins Rote zu verändern, da wird vergoldet, also von der Bronze ist bei diesen Figuren fast nichts mehr zu sehen. Nichts anderes macht John de Andrea, paar tausend Jahre später, wenn er seine Ariel vollständig mit Öl bemalt, und zwar äußerst realistisch bemalt..."
Ein gruseliges Exponat
Einige wenige hyperrealistische Skulpturen von Gegenwartskünstlern wie Ron Mueck, Sam Jinks oder Duane Hanson führen vor Augen, wie groß auch heute noch der Schock ist, wenn wir in einem Museum plötzlich einem kleinen Jungen mit Zuckerriegel begegnen, der noch zu atmen scheint. Oder einem verkleinerten älteren Mann, in Büßerposition, eingehüllt in ein weißes Gewand – ein Wunderwerk lebensnaher Gestaltung. Das gruseligste Exponat der Ausstellung ist ein Christus an der Geisselsäule, ebenfalls Ende des 17. Jahrhunderts, dessen Haut bis aufs blutige Fleisch aufgerissen ist.
Eine Schocker-Skulptur, die auch den hartgesottenen Barockmenschen zu Tränen rühren sollte. Seit vielen Jahren betreibt das Frankfurter Liebieghaus praktische Farbforschung, um das originale Erscheinungsbild von Skulptur wachzurufen. In der Ausstellung ist es eine mittelalterliche Heilige Barbara aus der Werkstatt von Michel Erhart, die als verblasstes Original und daneben als superfarbige Replik präsentiert wird. Der Rekonstruktion sind lange Forschungen am Hochaltar von Blaubeuren vorausgegangen. Denn dort gibt es noch Figuren im farbigen Originalzustand. Der Replik der heiligen Barbara ist es zugute gekommen.
"Die Dame zeigt ein fast weißes Inkarnat, mit kräftig roten Wangen, gezupften Augenbrauen, wunderschönen Augen, goldblonde Haare, einen kräftigen starkgoldenen Mantel mit einem wunderbar blauen Azuritkleid darunter mit goldenen runden Pailletten. Ein Erscheinungsbild, was man mit plastisch und sehr künstlich gleichsetzen würde, aber wenn man schaut, wie spätgotische Objekte, grade in Blaubeuren aussehen, wo sie noch sehr gut erhalten sind, findet man genau dasselbe, genau das gleiche Ergebnis…“
Die große Illusion – sie gehört zur Geschichte der abendländischen Skulptur. Das hätten wir fast vergessen. Das Frankfurter Liebieghaus ruft es in Erinnerung: mit einer spektakulären, schockierenden und äußerst unterhaltsamen Schau.

Die Ausstellung "Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken" ist bis zum 1. März 2015 im Frankfurter Liebieghaus zu sehen. Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage.

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