Darf man Bilder von den Opfern zeigen?

17.12.2012
Die "Berliner Zeitung" druckt Aufnahmen der späteren Opfer und die vollen Namen der im amerikanischen Newtown getöteten Kinder. Chefredakteurin Brigitte Fehrle verteidigt diese Form der Berichterstattung. Das Blatt wolle alle Facetten des Geschehens darstellen.
Christopher Ricke: Das Blutbad an einer amerikanischen Schule am Freitag – es beschäftigt uns auch im "Mediengespräch", weil es natürlich die Medien beschäftigt. Dieses Ereignis ist so zynisch und die Geschichten, die damit verbunden werden, sind so hart, dass sie eigentlich schon die Karikatur gleich darstellen, in der "Berliner Zeitung" heute auf der Seite vier: zwei bewaffnete Männer, sie fordern Waffenrecht für Grundschüler. Dann hätten sie sich – das ist wirklich das Argument der Waffenlobby – verteidigen können. Vielleicht muss man nicht die Kinder bewaffnen, sagt die Waffenlobby, aber die Lehrer. Die Lehrer hätten Gewehre haben sollen.

Ich spreche jetzt mit Brigitte Fehrle, der Chefredakteurin der "Berliner Zeitung". Guten Morgen, Frau Fehrle!

Brigitte Fehrle: Guten Morgen!

Ricke: Das, was ich beschrieben habe, was auch Ihr Karikaturist darbietet – ist das Zynismus, ist das Ironie, ist das Sarkasmus, oder nur böse?

Fehrle: Ja, es ist natürlich zynisch, auch zynisch gemeint, durchaus, das ist ja die Aufgabe auch der Karikatur, dass sie überzeichnen soll. In diesem Falle hatte ich gestern gedacht, eigentlich fast noch zu wenig überzeichnet, weil es ja eigentlich im Grunde die Realität abbildet. Unser Autor, der auf der Seite zwei unserer Zeitung dann über die Debatte über das Waffenrecht schreibt, der beschreibt ja eine Situation, die es wirklich gegeben hat im amerikanischen Fernsehen, wo ein Moderator sich in den Streit geredet hat mit zwei Angehörigen der Waffenlobby, die genau dieses Argument gebracht haben. In diesem Falle, mir war sie fast noch ein bisschen zu wenig böse, diese Karikatur, weil sie eben nur – oder was heißt nur, weil sie eben Realität wirklich darstellt. In unseren Augen natürlich und auf dem Hintergrund unserer Debatte über Waffen in der Gesellschaft hat es schon was sehr, sehr Zynisches.

Ricke: Wenn ich mir die Seiten zwei und drei in der "Berliner Zeitung" ansehe, das sind die beiden großen Seiten mit sehr vielen Bildern, da schnürt es mir den Hals zu, wenn ich mir diese Bilder anschaue. Und da bin ich froh, dass wir im Radio Bilder nicht zeigen müssen, sondern dass es reicht, die Geschichten zu erzählen. Und das sind ja keine blutigen, keine Gewaltbilder, die Sie zeigen, sondern Bilder von harmlosen Kindern, Bilder von Verzweiflung, Bilder von trauernden Menschen. Wie geht das in der Redaktion, wie wählt man da die Bilder aus?

Fehrle: Ja, das ist eine wirklich schwierige Angelegenheit an so einem Tag, eine Zeitung machen zu müssen und speziell die Bilder auszusuchen, da haben Sie völlig recht. Ich habe mir überlegt, gestern, als ich die Bilder alle gesehen habe, wir müssen zeigen, was das in den Menschen auslöst, welche Fassungslosigkeit, welche Trauer, und zwar in ganz unterschiedlichen Menschen. Also wir zeigen ja Rettungskräfte, die dort im Einsatz gewesen sind, wir zeigen den amerikanischen Präsidenten, als er seine Ansprache gehalten hat und ihm die Tränen in den Augen standen, und wir zeigen die Menschen von Newtown, die natürlich vollkommen fassungslos vor diesem unglaublichen Verbrechen stehen. Das ist ja etwas, was man nicht begreifen kann, egal ob man selber Angehörige verloren hat oder nicht. Und wir zeigen auch Bilder von den Kindern, die getötet worden sind. Und in diesem Zusammenhang – oder dieser Zusammenhang dieser Bilder, der zeigt natürlich auch dieses Verbrechen, was wahrscheinlich überhaupt nie verstanden werden kann, und so, das sind so die Kriterien, nach denen wir die Bilder aussuchen, alle Facetten dieses Dramas, dieses Unglücks, dieser Tragödie, darzustellen, und eben gerade keine Distanz herzustellen. Die Distanz stellen die Texte her. In den Texten wird auch über die Waffenlobby gesprochen, das habe ich vorhin schon gesagt, aber die Bilder, die sollen sozusagen unmittelbar die Emotionen zeigen.

Ricke: Die versuchen Sie ja auch gezielt auszulösen, wenn ich hier lese: Olivia Engel, sechs, sollte Engel im Krippenspiel sein – Sie zeigen mir klare Kinderbilder, also da ist nichts verfremdet, Sie zeigen mir volle Namen. Mit deutschen Kindern wäre das nicht gegangen, rein presserechtlich. Warum macht man es mit amerikanischen?

Fehrle: Die Bilder sind frei, wenn deutsche Kinder frei wären, dann hätten wir das auch gemacht. In diesem Falle – ich persönlich finde, warum sollte man denn da eine Distanz herstellen? Also es ist etwas, was jedem sozusagen ins Herz springen soll, diese Geschichte, und auch unter die Haut gehen soll, und zu sehen, dass da Kinder sind, die noch ganz viel vorhatten im Leben, die gerade ganz unmittelbar auch was vorhatten, die sich auf die Weihnachtszeit vorbereitet haben, macht doch das ganze Ausmaß dieses Dramas noch mal ganz anders deutlich. Ich weiß nicht, warum man an so einem Punkt distanziert sein muss. Distanziert muss man sein, wenn man darüber nachdenkt, wie kann so was passieren in Amerika, und gerade die Diskrepanz der amerikanischen Diskussionen, ja, wir wollen weiter diese Waffen haben, und diesen völlig unschuldigen Kindern macht doch auch klar, wie absurd die Position der amerikanischen Waffenlobby da ist.

Ricke: US-Präsident Obama ist vier Jahre im Amt, und es ist das vierte derartige Massaker, zu dem er reist, wo er versucht, die Menschen zu trösten, und wo er auch anklingen lässt, dass man vielleicht mit der Waffenlobby anders umgehen möchte. Das ist ja fast schon so eine Art bittere Routine – vielleicht auch bei uns Journalisten? Wenn der Reflex kommt, oh, schon wieder ein Blutbad, schon wieder die USA, dann weiß man, was kommt. Dann gibt es unschuldige Opfer, der Täter ist meistens ein junger Mann, der psychisch ein klein bisschen auffällig gewesen ist, man weiß, wie die Waffenlobby argumentiert, man sucht eine Chronik raus – die schlimmsten Blutbäder der vergangenen Jahre –, ist das redaktioneller Alltag inzwischen?

Fehrle: Genau so haben wir gestern früh auch gesprochen, das ist interessant, wie Sie das auch darstellen. Also ich habe zu einem Kollegen – und da ist natürlich Zeitungmachen auch fast zynisch – gesagt: Das können wir alles aus dem Archiv holen, das haben wir schon, das machen wir im Grunde alle halbe Jahre. Und daran aber zeigt sich auch, wie schlimm sich das inzwischen in Amerika entwickelt hat. Natürlich ist Zeitungmachen an so einem Tag Routine wie an jedem anderen Tag auch, aber gleichwohl – und das zeigt ja auch der Umfang der Berichterstattung, die wir gemacht haben, auch andere Zeitungen natürlich gemacht haben –, dass es eben dann doch wieder keine Routine ist. Also das Zeitungmachen selber schon, das Ereignis nicht. Und wir versuchen natürlich in der Redaktion, uns da auch nicht davor abzuschotten und dann wirklich Standardprogramm zu machen, sondern uns und unsere Kollegen, die wir rausschicken – also der Reporter, der für uns vor Ort gewesen ist –, so zu sensibilisieren, dass wir sagen, jedes solcher Ereignisse ist absolut einmalig und man darf da nicht abstumpfen.

Ricke: Brigitte Fehrle, die Chefredakteurin der "Berliner Zeitung", ich danke Ihnen, Frau Fehrle!

Fehrle: Danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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