Darf im Sterbebett gelacht werden?

12.12.2012
H. Christof Müller-Busch untersucht die Lage der Sterbenden im Medizinbetrieb, bringt die Dominanz der Gesunden zur Sprache und fragt nach dem Erleben der Zeit, wenn die Zeit zum Leben endet. Sein überzeugendes Buch verbindet schonungslose Offenheit mit würdevoller Distanz.
Die palliativmedizinische Station erfüllt dem schwerkranken alten Mann seinen größten Wunsch: Er möchte nach Hause entlassen werden, um seine gleichfalls kranke Frau noch eine Weile zu pflegen. Ein ambulanter Dienst soll das Ehepaar begleiten. Beim ersten Besuch findet der Mitarbeiter den Patienten im Keller des Hauses. Er hat sich erhängt.

Nein, das Buch "Abschied braucht Zeit" des bekannten Palliativmediziners H. Christof Müller-Busch ist nicht immer leicht zu ertragen, zu mächtig stellen sich die instinktiven Abwehrreaktionen des Menschen gegen den Tod. Dies nicht zu beschönigen, gehört zu den vielen beachtenswerten Seiten dieses Buches, das sich mit Grundfragen der Palliativmedizin auseinandersetzt. H. Christof Müller-Busch untersucht die Lage der Sterbenden im Medizinbetrieb, bringt die Dominanz der Gesunden am Sterbebett zur Sprache, fragt nach dem Erleben der Zeit, wenn die Zeit zum Leben endet. Was fühlen Sterbende? Wie viel darf gelacht werden am Ende des Lebens? Was bedeutet Trauer?

Neben teils recht anspruchsvoll formulierten historischen und philosophischen Betrachtungen präsentiert das Buch immer wieder Passagen und Fallgeschichten, die einem sehr nahe gehen. Etwa wenn sich ein ganzes Kapitel mit Scham, Ekel und Schuldgefühlen auseinandersetzt. Viele Pflegebedürftige wehren sich heftig gegen die Körperpflege. Scham sei die Hüterin der Würde, erklärt der Autor. Die Entblößung des durch die Krankheit entstellten Körpers koste seelische Überwindung, die es behutsam zu begleiten gelte. Aber auch professionelle Helfer werden von Abwehrgefühlen heimgesucht. Wer dies tabuisiere, der verhärte, warnt das Buch.

Viele schmale Grate muss die Sterbemedizin wandern, auch das macht die Lektüre deutlich. Wie sollen Ärzte reagieren, wenn verzweifelte Patienten um die Todesspritze bitten? H. Christof Müller-Busch erteilt der aktiven Sterbehilfe mehrfach im Buch eine klare Absage, setzt auf Schmerztherapie und psychologische Betreuung. Doch der Autor ringt auch um seine Klarheit – und wenn eine Fallgeschichte plötzlich von seiner eigenen Mutter handelt, die sich absichtlich zu Tode hungerte, während die Familie dies geschehen ließ, dann schimmert auch durch, dass die Dimension des freiwilligen Lebensabschieds dem Menschen H. Christof Müller-Busch weniger fern liegt, als es dem Arzt lieb wäre.

"Wie ich sterben will" heißt das Schlusskapitel des Buches, ganz in der ersten Person geschrieben. Ich möchte wissen, wann der Tod kommt, erklärt H. Christof Müller-Busch. Ich möchte keine sinnlose Lebensverlängerung erleiden. Ich wünsche mir, dass meine Privatsphäre gewahrt bleibt. Und ich möchte bestimmen können, wer in den letzten Stunden bei mir wacht. Sogar seine persönliche Patientenverfügung gibt der Autor preis, die der Komplexität seiner Vorstellungen intim und klug Rechnung trägt. Genau das macht dieses Buch so stark: schonungslose Offenheit im Verbund mit würdevoller Distanz. Das Ethos der Palliativmedizin ließe sich kaum überzeugender demonstrieren.

Besprochen von Susanne Billig

H. Christof Müller-Busch: Abschied braucht Zeit. Palliativmedizin und Ethik des Sterbens
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
295 Seiten, 10 Euro
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