"Dämonen" in Frankfurt

Laut, nackt und ätzend

Das Ensemble der Frankfurter "Dämonen"-Inszenierung von Sebastian Hartmann
Das Ensemble der Frankfurter "Dämonen"-Inszenierung von Sebastian Hartmann © Birgit Hupfeld / schauspiel frankfurt
Von Natascha Pflaumbaum · 30.01.2015
Der Regisseur Sebastian Hartmann hat Dostojewskijs Roman "Die Dämonen" am Schauspiel Frankfurt auf die Bühne gebracht. Fast fünf Stunden dauert das ebenso nervenzerrende wie fantastische Spektakel – großes Theater.
Etwa ein Drittel der Zuschauer kam nach der Pause nicht wieder, da waren bereits zwei Stunden "Dämonen" vergangen, und man rückte zusammen im großen Haus des Schauspiel Frankfurt. Die ersten zwei Stunden sind typisch "Hartmann": langatmig, fragmentiert, laut, nackt, ätzend, blutverschmiert. Man sucht einen roten Faden, will unbedingt Dostojewskijs „Dämonen" auf der Bühne wiedererkennen, aber man kapiert nicht viel. Alles unzusammenhängend, die Sprache, die Deklamation: laut, komisch, unverständlich, aggressiv, und dann diese ständigen Wiederholungen, als hätte jemand eine Rewind-Taste gedrückt. Hartmann trampelt auf den Nerven der Zuschauer herum, indem er seine Schauspieler schreien und derwischen lässt, und seine Szenen so frei zusammenwürfelt, dass man kurz davor ist, die Geduld zu verlieren.
Das ist natürlich alles Programm, Strategie und verfehlt seinen Effekt nicht. Man ist verwickelt − negativ verwickelt − in das Spiel dieser Dämonen. Das sind zwei junge Männer, die mit ihren Erfahrungen aus der großen weiten Welt in die vorrevolutionäre russische Provinz zurückkehren, um da eine Diktatur zu etablieren. 90 Prozent arme Schlucker sollen von zehn Prozent Herrschern regiert werden. So stellen sich Pjotr und Nicolai die künftige Gesellschaft vor.
Die Pause nach zwei Stunden ist unbedingt notwendig in dieser Produktion, damit man den ersten Teil "sacken" lassen kann. Danach erst fügt sich alles zusammen – genial zusammen. Sebastian Hartmann dramatisiert den "Dämonen"-Roman nicht, indem er sich an zentralen Szenen der Vorlage entlanghangelt. Er seziert aus dem 1000-Seiten-Werk nur wenige Szenen, die er aufbläht durch Dehnungen, Wiederholungen, Verzerrungen: etwa die hysterische Ehebettszene von Nikolai und seiner verkrüppelten Frau Marija Timofejewna, die Brautwerbung von Warwara, Stepan und Warwaras Mündel oder die bestialische Geburt von Marijas Kind Iwan.
Blut fließt aus der Plastikflasche
Diese Szenen verbindet er durch flächige Elektronik-Musik des Trios "Apparat", durch langatmige vermeintlich sinnlose Füllszenen (Rennen, Trampeln, Trippeln), durch Bühnenumbau-Arbeiten der Schauspiel-Crew und durch kleine Mätzchen mit dem und im Publikum. Und durch fahriges Blutvergießen mit einer Kunstblutplastikflasche! Die Dostojewskij-Szenen wirken so wie eingekapselt als eigenständige Geschichten.
Auf diese Weise entsteht am Ende zwar ein Roman-Surrogat, aber jede Szene kann auch für sich stehen: exemplarisch für eine typische Lebenssituation einer Biographie eines jeglichen Menschen. Das Fantastische dieser Arbeit ist – und das erkennt man erst, nachdem man die fast fünf Stunden erlebt hat – die Gesamtkomposition. Das Fantastische ist, dass Hartman jedem Schauspieler dieser Produktion eine Bravourszene auf den Leib inszeniert. Jeder Schauspieler, jede Schauspielerin hat mindestens eine Szene in dieser Produktion, in der sie so an- und aufregt, dass man amüsiert, angeekelt, vergnügt oder genervt ihrem Spiel folgt. Heidi Ecks, Paula Hans, Franziska Junge, Linda Pöppel, Michael Benthin, Isaak Dentler, Vincent Glander, Manuel Harder, Christian Kuchenbuch und Tolga Tekin: großes Theater!
Fanatische Dämonen von heute
Das Thema, die fanatische, sadistische Idee, den Terror in die Provinz zu bringen, um so Macht über Menschen zu gelangen, wird in keiner Minute dieser Produktion aus den Augen verloren. Die Dämonen, die Besessenen erinnern so deutlich an die politisch Fanatischen, die heute die Welt heute mit ihrem Terror übersäen, ohne dass Hartmann konkrete Anspielungen macht. Er bleibt stets im Dostojewskij-Kontext.
Gerade weil alles so exemplarisch ist und der Roman als offene Textform nur den Stoff und das Gerüst für Hartmanns fantastische Bühnenarbeit liefert, entsteht nie der Eindruck, der Text werde ausgebeutet. Hartmann schafft tatsächlich ein Mehr, etwas Neues: Er zeigt, dass Theater immer noch echt affizieren kann, er zeigt, wie Theater aus dem wirklichen Leben kommen kann, er zeigt, dass Romane auf eine Bühne passen, und er zeigt, wie man alte Stoffe, Themen aktuell macht, ohne zu aktualisieren: indem man dem Zuschauer ein Gefühl implantiert, das er nicht abweisen kann. Es sei denn, er geht zu früh.