"Da ist kein Mirabeau, da ist kein Lenin"

Klaus von Beyme im Gespräch mit Joachim Scholl · 04.02.2011
Frühere Revolutionen wurden meist von elitären Organisationen geführt. In Ägypten ist das nun anders, sagt der Heidelberger Politikwissenschaftler Klaus von Beyme - und erklärt, wie Revolten entstehen.
Joachim Scholl: Wie entsteht eine Revolution? Was kommt zusammen an Kräften und Einflüssen, dass Menschen sich plötzlich trauen, einem verhassten Regime offen und öffentlich zu widersprechen? Der Schriftsteller Ryszard Kapuscinski hat vor 30 Jahren in einem Buch über die iranische Revolution, die den Schah stürzte, diese revolutionäre Kraft beschrieben und einen ganz bestimmten Augenblick dafür benannt:

"Der wichtigste Moment, der über das Schicksal der Revolution entscheidet, ist jener, da der Polizist sich dem Mann am Rande der Menschenansammlung nähert und ihm mit erhobener Stimme befiehlt, auf der Stelle nach Hause zu gehen. Die Erfahrung des Polizisten lautet: Wenn ich einen Menschen anbrülle und dazu drohend den Knüppel schwinge, beginnen diesem vor Angst die Knie zu schlottern und er läuft davon. Die Erfahrung des Mannes aus der Menge lautet: Wenn ein Polizist auf mich zukommt, werde ich von Angst gepackt und gebe Fersengeld. Diesmal kommt es anders: Der Polizist hebt die Stimme, aber der Mann rennt nicht weg. Er bleibt stehen und schaut den Polizisten an. Sein Blick ist wachsam und enthält noch einen Rest Angst, aber gleichzeitig ist er hart und unverschämt. Er rührt sich nicht vom Fleck. Dann wendet er sich um und registriert die Blicke der anderen. Sie sind ähnlich – wachsam, noch mit einem Restchen Angst, aber bereits hart und fest. Keiner läuft davon, obwohl der Polizist immer noch brüllt. Endlich verstummt er, und für einen Augenblick tritt tiefe Stille ein. Wir wissen nicht, ob der Polizist und der Mann aus der Menge begriffen haben, was vorgefallen ist. Dass der Mann aus der Menge seine Angst überwunden hat und dass damit die Revolution begann. Das ist der Anfang."

Scholl: Das ist der Anfang der Revolution, wie es der Schriftsteller Ryszard Kapuscinski im Hinblick auf die iranische Revolution beschrieben hat. Ich bin jetzt verbunden mit Klaus von Beyme, Politologe und Professor emeritus an der Universität Heidelberg, er hat über Revolutionen und ihre Entwicklung geforscht. Guten Tag, Herr von Beyme!

Klaus von Beyme: Guten Tag!

Scholl: Ist das der wichtigste Moment, wie wir es eben gehört haben, bei einer Revolution – der Mann aus der Menge starrt die uniformierte Macht unverschämt an –, das heißt, die Revolution beginnt, wenn die Menschen ihre Angst verlieren?

von Beyme: Ja, ich glaube, das ist eine schöngeistige Beschreibung dessen, was da vor sich geht. Wenn wir es etwas allgemeiner sozialwissenschaftlich formulieren wollen, würden wir sagen, es beginnt, wenn die Angst vor der Aussichtslosigkeit der eigenen Lage größer wird als die Angst vor der Staatsgewalt. Dann ist es eine revolutionäre Situation.

Scholl: Ist das der historisch übergeordnete Weltaugenblick zu allen Zeiten, bei allen Revolutionen, wie jetzt auch in Tunesien und Ägypten?

von Beyme: Einen Weltaugenblick kann man in der Tat finden dann, wenn man sagt, dass so etwas ansteckend ist. Und ansteckend war es ja schon 1789 oder 1848 oder 1917/18, aber früher waren dann meistens elitäre Organisationen dahinter. Und was heute neu ist, das ist, dass die Menschenmenge gar nicht direkt geführt wurde – da ist kein Mirabeau, da ist kein Lenin.

Scholl: Jetzt haben Sie schon einige historische Vorbilder genannt, Herr von Beyme. Was muss in einem Volk, einer Nation passieren, welche Kräfte, welche Mechanismen sind es, die eine Revolution entstehen lassen und dann auch steuern?

von Beyme: Darüber hat es viele Theorien gegeben, die krasseste ist die von Lenin, der den Slogan ausgab: Je schlimmer, desto besser! – für uns, die Revolutionäre, weil dann eine revolutionäre Situation entsteht. Und früher hat Tocqueville in der Analyse der Französischen Revolution gesagt, nein, es ist eher schlimm, wenn es besser wird und dann plötzlich ein Einbruch kommt. Und auf dieses neue Phänomen jetzt angewandt würden wir sagen, wenn durchaus ein Wachstum ist, wie wir das in Ägypten haben, aber die Reichen davon profitieren und die Armen immer ärmer werden, dann ist revolutionäre Situation gegeben.

Scholl: Lassen sich denn so historisch überzeitliche und auch überregionale Muster entdecken, die für alle Revolutionen gelten?

von Beyme: Das hat man versucht. Crane Brinton, ein britischer Historiker, hat das mal in der "Anatomie der Revolution" versucht, da gibt es dann so Phasen, aber das ist alles auf Europa bezogen. Jetzt haben wir es mit anderen Dingen zu tun, und da sind drei Typen zu unterscheiden: Massenrevolution oder Reformcoup wie beispielsweise die Jungtürken oder die Meiji-Bewegung in Japan einst, und drittens ein Coup d'État oder eine Minderheiten-Machtergreifung, wie das häufig in Lateinamerika ist.

Und wir haben es nur mit dem ersten Typ zu tun. Und da gibt es nun wieder neuere Theorien, wie die von Heinsohn in Bremen, die sagen, da ist ein Jugendüberhang in der Gesellschaft, sind zu viel junge Leute, die haben keine Chance und wollen die Alten vertreiben. Und dann wird gesagt, im Jemen ist das am schlimmsten, in Ägypten ist es so halbe-halbe, und in Tunesien ist es vergleichsweise am günstigsten, da kann sich das Militär demnächst wieder zurückziehen.

Scholl: Über das Wesen von Revolutionen im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politologen Klaus von Beyme. Letztlich entscheidend, Herr von Beyme, ist ja auch schließlich die Frage, ob und wie weit die Revolution gelingt. Im Nachhinein lässt sich das ja alles gut sortieren, doch mitten im revolutionären Prozess kann ja niemand sagen, wohin die Entwicklung führt. Was muss passieren, damit eine Revolution erfolgreich ist?

von Beyme: Ja, im Gegensatz zu diesen historischen Revolutionen, von denen wir gesprochen haben, spielt heute die ausländische oder die internationale Intervenierung eine Rolle. Das ist natürlich nicht in dem Sinne, dass die da einmarschieren, wie man das in der Französischen Revolution getan hat, sondern es wird Druck ausgeübt, es wird Propaganda gemacht, und das läuft. Und der Erfolg ist dann in erster Linie daran zu messen, ob es eine demokratische Wahl und eine demokratische Regierung gibt. Und das ist noch offen.

Scholl: Noch mal zurück zu diesem initialen Moment: Wie massiv muss anfangs der Protest, die Rebellion sein?

von Beyme: Es müssen zu viele Leute daran teilnehmen, als dass die Repression der Polizei noch hilft. Und es muss eine Art – das ist das Zweite – eine geheime Solidarisierung mit Militär und Polizei bei den Revolutionären auf der Straße stattfinden. Und genau das haben wir in Ägypten.

Scholl: Inwieweit untersteht dann der politische Erfolg einer Revolution aber überhaupt noch dem Einfluss der Menschen, also der Rebellion auf der Straße? Ich meine, irgendwann muss jeder auch mal nach Hause gehen.

von Beyme: Das ist richtig. In komplexen Systemen im Norden ist das schlimmer als da unten, in einem warmen Klima muss man nicht unbedingt nach Hause. Und wenn die Arbeitslosigkeit fürchterlich ist und die Tristheit einem dann ein Erlebnis des Kollektivs macht, muss man gar nicht so bald nach Hause. Von dem Ende her haben diese südlichen Bewegungen viel größere Chancen als hier bei uns, obwohl man ja bei Stuttgart 21 auch gesehen hat, dass die das jetzt inzwischen bei uns sogar im Norden in der Kälte gelernt haben.

Scholl: Das heißt, eine Revolution kann durchaus auch von den klimatischen Bedingungen abhängen, ja?

von Beyme: Kann ein bisschen abhängen, aber wird zunehmend unabhängiger.

Scholl: Ein notorisch historischer Satz lautet – den wir alle kennen: "Die Revolution frisst ihre Kinder." Ist das auch ein geschichtliches Moment, das immer gleich bleibt?

von Beyme: Nein, das bleibt keineswegs gleich, denn wenn die Demokratisierung gelingt, frisst sie überhaupt nicht. Das war ja gemünzt auf die leninistische Diktatur, und da ist das passiert. Unter Stalin wurden dann die frühen Revolutionäre ja liquidiert. Das muss jetzt nicht notwendigerweise so eintreten.

Scholl: Wie ist das aber, wenn der Diktator sagt, wie wir es jetzt in Ägypten oder auch im Jemen sehen, ja, ja, ich gehe, ihr lieben Landsleute, aber nicht gleich. Kann man auf diese Weise nicht auch eine Revolution gewissermaßen clever konterkarieren von der Herrschaftsseite aus?

von Beyme: Kann man theoretisch, wenn man es beizeiten gut macht, aber für meine Begriffe ist das in Ägypten verpasst worden, der richtige Zeitpunkt. Das hat er danach geklappert, und dann läuft das nicht mehr. Die Leute wollen jetzt einen spektakulären Erfolg. Selbst schöne Reformen und einzelne Gesetze anzukündigen, würde jetzt nichts mehr nützen. Jetzt wollen sie sozusagen etwas handgreiflich, was man anfassen kann, und das ist der Rücktritt.

Scholl: Deutsche Historiker sagen ja oft mit Blick auf die deutsche friedliche Revolution von 1989, es hätte ganz anders kommen können. Volksmassen hin oder her, wenn die Sowjets nicht stillgehalten hätten, wenn die Siegermächte nicht ihren Segen zur Einheit gegeben hätten, dann wäre Geschichte anders gemacht worden. Wie wichtig sind diese äußeren Faktoren für eine Revolution? Sie haben vorhin diesen Aspekt schon angesprochen, Herr von Beyme.

von Beyme: Ja, in der deutschen Frage war es in der Tat unglaublich wichtig, und dass ein Mann wie Kohl da einfach, ohne sich mit den Alliierten abzusprechen, vorprescht und sein Zehn-Punkte-Programm aufstellt, das war ungewöhnlich, und dass er damit durchgekommen ist, noch ungewöhnlicher. Das hat er zwei Leuten zu verdanken: Gorbatschow auf der einen Seite und dem amerikanischen Präsidenten auf der anderen Seite – während ja die Engländer und Franzosen eher dagegen waren.

Das ist eine völlig andere Situation dort unten, da können wir nicht annehmen, dass hier militärisch notfalls interveniert wird, aber es könnten zum Beispiel Kredite gesperrt werden, es kann die Ökonomie eingefroren werden, die Touristenströme gerade in Ägypten sind außerordentlich wichtig für die Zahlungsbilanz. Wenn das alles gekappt wird, dann hat man schon einen gewissen Druck.

Scholl: Bei der Französischen Revolution hat ganz Europa fassungslos zugeschaut, wie der König geköpft wurde, und es begann auch prompt der Krieg gegen Frankreich – Sie haben es vorhin schon erwähnt in einem Nebensatz, Herr von Beyme. Wie hoch schätzen Sie jetzt diesen außenpolitischen Einfluss auf die Entwicklung gerade jetzt in den arabischen Ländern ein?

von Beyme: Ja, ich glaube, es ist nicht so sehr wichtig, was wir machen, obwohl wir ja eben, wie ich gesagt habe, Druck ausüben, wichtig ist, was die anderen großen Mächte, die nicht durch Kolonialismus und Vergangenheit belastet erscheinen, machen. Und da würde ich vor allem an Indien denken, aber auch an China und notfalls sogar an Russland. Und wenn die gute Ratschläge geben und helfen für das Neue, dann wird das wahrscheinlich noch mehr zählen, als wenn wir das tun.

Scholl: Über die Macht und das Wesen von Revolutionen. Das war der Politologe Klaus von Beyme. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr von Beyme!
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