"Da haben wir unsere letzten Kräfte gegeben"

Carmen Tartarotti im Gespräch mit Ulrike Timm · 22.10.2010
Die Schriftstellerin Friedericke Mayröcker habe den Titel für die Dokumentation "Das Schreiben und das Schweigen" kreiert und das filmische Porträt damit zu ihrem Projekt gemacht, sagt Regisseurin Carmen Tartarotti. "Sie findet sich auch wieder in dem Film, das ist das Schöne".
Ulrike Timm: Friederike Mayröcker ist eine der bedeutendsten Dichterinnen heute. Aber kann man einer Dichterin bei der Arbeit zuschauen? Kann man eigentlich nicht, weiß die Dokumentarfilmerin Carmen Tartarotti, machte es dennoch und schuf mit "Das Schreiben und das Schweigen" einen vielfach ausgezeichneten Film.
Das muss eine schwere Aufgabe gewesen sein, über die Dichterin Friederike Mayröcker einen Film zu drehen, eine schwere Aufgabe für Carmen Tartarotti, die Regisseurin. Sie hat "Das Schreiben und das Schweigen" gestaltet und ist jetzt unser Gast. Schönen guten Tag, Frau Tartarotti!

Carmen Tartarotti: Guten Tag!

Timm: Ja wie macht man das, einen Film zu drehen über einen Menschen, der zum einen nicht gerne redet und zum anderen wenig Gesellschaft braucht?

Tartarotti: Ich hab mir neulich den Film noch mal angeschaut – ich geh sehr oft auch ins Kino und schau ihn mir immer wieder mit dem Publikum an – und ich muss sagen, ich hab mich selber gefragt, wie würde ich diesen Film heute noch mal machen? Also ich müsste wieder ganz von vorne anfangen. Es ist eine schwere Arbeit gewesen für uns beide, und Friederike Mayröcker hat auch neulich gesagt, dazu hätten wir wahrscheinlich beide nicht mehr die Kraft dazu, da haben wir unsere letzten Kräfte gegeben.

Timm: Sie hat aber mit gemacht, es sind 90 Minuten geworden, und der einzige Mensch, der erzählt, der von sich erzählt, ist eben die Dichterin Friederike Mayröcker. Als sie den Film gesehen hat, war sie selbst erstaunt, wie viel sie dann doch erzählt hat? Und wie hat er ihr gefallen?

Tartarotti: Der Film glaube ich gefällt ihr sehr gut und sie findet sich auch wieder in dem Film, das ist das Schöne. Ich muss sagen, also sie hat selber den Titel kreiert, "Das Schreiben und das Schweigen", und sie hat ihn auf einem Notizzettel notiert und hat ihn dann mit einer Stecknadel an die Styroporwand neben ihrem Schreibtisch gepinnt und hat ihn damit, eigentlich hat sie diesen Film zu ihrem Projekt gemacht. Sie hat diesen Zettel so an die Wand gepinnt, wie ihre anderen Verbaleinfälle, mit denen sie dann arbeitet.

Timm: Sie lebt in einer vollgestopften Wohnung: Papiere, Notizzettel, Wäscheklammern aus Blech, gestapelte Medikamentenschachteln … Landläufig würde man sagen, die Dichterin ist ein Messie, jemand, der unfähig ist, was wegzuwerfen. Warum braucht sie es genau so, mit diesen unendlich vielen Schachteln und Schächtelchen voller Worte und Papier?

Tartarotti: Ich hab ganz bewusst in dem Film als erstes Bild dieses katastrophale Chaos …

Timm: … unglaublich! …

Tartarotti: … gestellt. Sie sagt ja selber, also diese sprichwörtliche Unordnung und auch auf die Gefahr hin, dass der Zuschauer denkt, dass es sich hier um einen Messie handle. Und die Gralshüter von Mayröcker würden wahrscheinlich denken, ja warum hat man sie nicht aus dieser Wohnung herausgelöst und in einem sauberen, also in einem schönen Café gefilmt? Nein, weder Friederike Mayröcker noch ich hatten Angst vor dieser Zuschreibung, und Friederike Mayröcker sagt ja auch selbst ganz ironisch, wie sie einmal gefragt wurde von einem Journalisten, sie wurde natürlich nicht gefragt, sind Sie ein Messie, sondern sie wurde gefragt: Sie sammeln, Fragezeichen. Und dann hat sie dadrauf geantwortet: Ich sammle nicht, sondern bei mir sammelt sich etwas an. Denn bei ihr sieht es aus wie in einer Werkstatt oder in einer Fabrik, in dem dieses Material liegt, mit dem sie arbeitet.

Timm: Und sie nimmt sich dann immer zwischendurch aus einem dieser vielen, vielen Kästchen ein Zettelchen mit Wörtern drauf und findet dafür den Anschluss an ihren nächsten Text – wenn sie Glück hat?

Tartarotti: Wenn sie Glück hat, ja. Das ist dann sozusagen das Surreale zum Drüberstreuen.

Timm: Kamen Sie sich nicht bisweilen bei allem guten Kontakt vor wie ein Eindringling?

Tartarotti: Ich muss dazu sagen, ich hab schon vor 20 Jahren einen Film mit Friederike Mayröcker gemacht zusammen mit dem Schriftstellerkollegen Bodo Hell, und da hab ich sie sehr gut kennengelernt und einen Zugang zu ihr gefunden. – Trotzdem es diesmal wieder ein ganz anderes Vorgehen war, es war eine andere Vorgehensweise, mit mehr Risiko verbunden, weniger experimentell im Film, auch noch eine größere Nähe zu ihr. Und natürlich kam ich mir vor wie ein Eindringling, wenn ich mit meinen Taschen aufgetaucht bin. Also habe ich in den verschiedenen Domizilen vorher überlegt, packe ich jetzt die Kamera ein oder das Tonband? Beides zusammen wäre gar nicht gegangen …

Timm: … wir sollten es kurz beschreiben: Sie hat Ihnen immer ein ganz kleines Eckchen freigeräumt für Ihre Kamera, für Ihr Aufnahmegerät, und dann hat sie eigentlich sehr offen mit Ihnen gesprochen mit diesem ganz versteckten Kameragerät, was genau die 20 Zentimeter haben durfte, die sie auf dem Schreibtisch freiräumte!

Tartarotti: Das ist jetzt ein kleines Missverständnis, weil ich hab nie Kamera und Ton gleichzeitig gehabt. In dem Film ist Bild und Ton getrennt aufgenommen. Ich konnte immer nur entweder mit dem Tonband hingehen oder mit der Kamera, beziehungsweise mit der Kamera ganz selten.

Timm: Noch schwerer! Frau Tartarotti, das ist auch ein Film über das Alter. Friederike Mayröcker ist mittlerweile 85 Jahre alt, sie bewegt sich vorsichtig, sie geht aber gern und auch leidenschaftlich spazieren, sie liest auch noch öffentlich. Trotzdem, wie hat sie, wie erlebt sie dieses Alter? Sie trifft ja auch Vorsorge?

Tartarotti: Es gibt den sogenannten Vorlass und den Nachlass. Ich glaube, ich weiß nicht, ob in Deutschland hier der Vorlass so bekannt ist, das ist etwas, wo der Schriftsteller vor seinem Ableben einer Bibliothek, einem Archiv übergibt. Und sie übergibt ihre vielen, vielen Zettel, die ja eigentlich sehr kostbar sind – nicht nur eigentlich, sondern die sind sehr kostbar, aber der Zuschauer denkt sich vielleicht, das ist nur eine Zettelwirtschaft –, diese kostbaren Zettel kommen in Metallschränke in das Archiv des Rathauses.

Timm: Man erlebt ja auch so richtig Brüche, man kommt aus dieser musealen Wohnung und geht mit Friederike Mayröcker zum Flugplatz und hat plötzlich diese flimmernden Lichter, diese Anzeigentafeln und sieht das plötzlich mit ihren Augen. Wie haben Sie sich das ja auch getraut, diese Zeitbrüche zu machen in dem Film?

Tartarotti: Ich muss sagen, dieser Film ist aus vielen, vielen Bruchstücken entstanden und es war wirklich ein Prozess. Wir haben uns nichts vorgenommen. Wir haben ja den Film gemeinsam gemacht, wir haben versuchsweise uns an einen Film angenähert und da haben wir innerhalb von zwei Jahren sehr viele Bilder gesammelt und sehr viel Gespräche gesammelt und die wurden ja dann zu diesem Monolog zusammengeschnitten, der eine Art Selbstgespräch darstellt. Und man muss wirklich wissen, dass dieser Film aus Fetzen besteht, und ich war hauptsächlich mit dem Zusammennähen, also mit der Montage dieser Fetzen befasst. Und das, was in dem Film jetzt so aussieht, als würde sie ganz selbstverständlich in einer Situation direkt darauf Bezug nehmen und sprechen, das ist alles in der Montage passiert. In diesem Film wurde Text, also die Tonaufnahmen, und die Bildaufnahmen total getrennt.

Timm: Man spürt die ganze Zeit, wenn man Friederike Mayröcker zuhört, auch die lebenslange Liebe, die sie mit ihrem Lebenspartner Ernst Jandl über Jahrzehnte verband. Jandl ist 2000 gestorben, sie lebt jetzt alleine, und trotzdem hatte ich den Eindruck, er ist immer noch da, auch in der Wohnung, in den Körben, beim Schreiben. Haben Sie das ähnlich erlebt oder anders?

Tartarotti: Nein, das drückt der Film ja geradezu aus, er ist immer da. Und sie führt ja auch einen Dialog über den Tod hinaus mit ihm. Auch in der Art und Weise, wie sie dann das Ernst-Jandl-Archiv in der Nationalbibliothek besucht, da sind ja zwei Ebenen drinnen: Auf der einen Seite ist diese Ebene, wo der Archivar damit befasst ist, Jandls Arbeiten in den Schachteln zu verarbeiten, und die Friederike Mayröcker, die ihren eigenen Bezug da herstellt zu Jandl als Lebenden. Und ja … Und sie geht da raus und ist sehr angerührt und gleichzeitig, im selben Moment sagt sie, ich leb so gerne, ich lebe ja so unglaublich gerne!

Timm: Carmen Tartarotti, vielen Dank für Ihren Besuch im Studio! Sie drehte den Dokumentarfilm über Friederike Mayröcker, "Das Schreiben und das Schweigen". Vielen Dank!
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