"Da entsteht ein neues Mädchenbild"

Moderation: Katrin Heise · 14.11.2007
Zum 100. Geburtstag von Astrid Lindgren hat der ehemalige Leiter des Internats Salem, Bernhard Bueb, Lindgrens Werk und ihre Romanfiguren gewürdigt. Gerade "Pippi Langstrumpf" sei ein Vorbild für Mädchen, sich mutig ihrer Freiheit bewusst zu werden. Sie sei eine sehr selbstbewusste Figur, die an sich glaube.
Katrin Heise: Ich begrüße Bernhard Bueb, Pädagoge, ehemaliger Leiter des Internats Schloss Salem und Verfasser der Streitschrift "Ein Lob der Disziplin". Herr Bueb – Pippi Lotta verbieten, weil sie gegen Ruhe und Ordnung rebelliert? Ordnung und Disziplin, das sind Prinzipien, die Sie für die Erziehung und die Entwicklung von Kindern auch für sehr, sehr wichtig halten. Haben Sie trotzdem "Pippi Langstrumpf" vorgelesen?

Bernhard Bueb: Ja, meinen Kindern ständig, und es war eines ihrer Lieblingsbücher, also zwei Töchter, und es widerspricht überhaupt nicht Ordnung und Disziplin, denn was ja Astrid Lindgren voraussetzt, ist ja eine geordnete Welt der Geborgenheit, in der dann so phantastische Gedanken erlaubt sind und entstehen können. Und das war ja das Befreiende, dass Pippi Langstrumpf in einem bürgerlichen Umfeld ihrer Phantasie freien Lauf lassen durfte – Allmachtsphantasien waren das ja, auch mal stärker sein als Erwachsene, und immer zu einem guten Zweck! Sie hatte ja ein gutes Herz, und viele ihrer Rebellionen waren ja gegen Erwachsene gerichtet, die unmenschlich waren oder Kindern ein richtiges Leben nicht erlaubten und so weiter.

Heise: Das heißt, ich höre raus, Sie mögen Pippi Langstrumpf?

Bueb: Ja, sehr!

Heise: Sie ist Ihnen nicht zu undiszipliniert? Ich meine, dass Sie das Gute will, dazu normalerweise Sie sagen, Kinder müssen erzogen werden, man darf Sie nicht einfach aufwachsen lassen. Pippi Langstrumpf wächst aber einfach auf, erzieht sich selbst mehr oder weniger.

Bueb: Ja, aber sie lebt ja nicht in der wirklichen Welt. Es ist ja gewissermaßen ein Märchen oder eine Geschichte, und darauf hat ja auch Astrid Lindgren Wert gelegt, dass das kein Aufruf ist, sie nun zum Vorbild zu nehmen und so zu leben. Das haben ja auch Kinder nicht getan, sondern Kinder haben sich hineinversetzt in dieses wunderbare Wesen, das eben die Macht hatte, das zu tun, was sie für richtig hielt. Sie hat ja auch Naturgesetze außer Kraft gesetzt und eben die Erwachsenen ad absurdum geführt, deswegen haben die Erwachsenen sich ja auch so aufgeregt! Und das finde ich nicht nur zulässig für Kinder, sondern das finde ich geradezu notwendig, dass sie mit ihrer Phantasie in solchen Bereichen spazieren gehen können.

Heise: Sie haben gerade gesagt, Naturgesetze außer Kraft gesetzt zum Beispiel. Welches Kind möchte nicht mal sein wie Pippi, so stark, so furchtlos? Müssen wir als Erwachsene sie eigentlich da auf die Wirklichkeit wieder hinweisen und sagen, du, so ist es aber nicht? Oder kriegen die Kinder den Vergleich zur Wirklichkeit selber hin?

Bueb: Die kriegen das selber hin. Ich habe nie erlebt, es ist mir auch nie bekannt geworden, dass irgendein Kind Pippi Langstrumpf als Vorbild genommen hat, um dann real zu rebellieren. So ein Fall ist mir nicht bekannt, wird auch in der Literatur, meines Wissens, nicht berichtet, weil das ja eine Unterstellung ist, dass man meint, Kinder würden das wörtlich nehmen und dann danach handeln. Die Literatur davor, die war natürlich immer sehr belehrend. Es gab zwar ja auch schon "Alice im Wunderland" und so weiter, auch schon phantastische Literatur, vorher, aber nicht so sehr in Deutschland.

Heise: Aber es gab eben auch die Anti-Pippis, nämlich zum Beispiel den Struwwelpeter.

Bueb: Ja, der war natürlich viel früher, und das war ein belehrendes Buch. Das war ein pädagogisch belehrendes Buch, und das ist ja auch das Anstrengende an diesem Struwwelpeter, und das, weswegen er heute auch keine Rolle mehr spielt.

Heise: Was schätzen Sie also als Pädagoge ganz besonders an den Lindgren-Figuren?

Bueb: Also, zunächst einmal an vielen Figuren, auch an dem Michel von Lönneberga oder an anderen, dass sie die Kinder in ihrer eigenen Phantasie sich entfalten lassen. Man merkt also, das ist nicht ein Erwachsener, der die Kinder darstellt, sondern es ist sozusagen der eigene Duktus der kindlichen Phantasie, der hier zur Sprache kommt. Und es ist ja nicht nur eine heile Welt, die dargestellt wird, es werden ja viele Themen bearbeitet, Krankheit, Tod und so weiter, und vorhin wurde ja auch zitiert, Astrid Lindgren, dass sie sich besonders freut, wenn ein Kind durch die Lektüre ihrer Bücher die Angst vor dem Tod verliert. Das heißt, es ist eine Literatur, die den Kindern erlaubt, ihre Probleme zu bearbeiten und das angesichts sehr anschaulicher, wunderbarer Figuren, in einer relativ häufig heilen Welt. Wir haben noch eine Welt mit Pferdekutschen und mit Land und ohne Autos und so weiter.

Heise: Und auch mit sehr gut erzogenen Kindern, dem Tommy beispielsweise und der kleinen Annika. Diese Kinder werden ja auch immer, sage ich mal, disziplinloser im Laufe der Geschichte und finden das immer toller, wie Pippi sich da auslebt. Auch das kein schlechtes Beispiel?

Bueb: Auch das kein schlechtes Beispiel, umgekehrt – es hat ja zur Emanzipation von Kindern und auch vor allem von Mädchen geholfen! Die Pippi Langstrumpf ist ja auch ein Vorbild für die Mädchen, sich mutig sozusagen ihrer Freiheit bewusst zu werden und selbstständig zu werden. Das ist ja ein neues Mädchenbild, was da entsteht. Das habe ich immer sehr geschätzt. Ich bin mir übrigens nicht sicher, wie weit Pippi Langstrumpf auch von Jungs gleichermaßen gelesen wird, was ich nicht glaube, da ich nur Töchter hatte, war das kein Problem.

Heise: Aber im Moment gesehen, wird es auf jeden Fall auch von Jungen, kann ich Ihnen bestätigen. Bernhard Bueb, Pädagoge, von ihm stammt die Schrift "Lob der Disziplin", ich spreche mit ihm über Astrid Lindgren und vor allem über Pippi Langstrumpf. Über Lindgren sagt man ja immer, sie habe nie die Perspektive der Kinder vergessen. Ist das eigentlich auch eine Botschaft an uns Erwachsene, nehmt die Perspektive der Kinder endlich ernst?

Bueb: Das ist eine sehr wichtige Botschaft, die ich auch sehr beherzigt habe. Deswegen war ich so froh, dass ich durch meine Kinder auch gezwungen war, sehr viel Astrid Lindgren zu lesen und mich immer wieder hineinzuversetzen in diese kindliche Welt, und das ist ihr unglaublich gelungen, dieses darzustellen. Und es gibt natürlich auch so Lieblingsbücher, für mich ist der "Michel von Lönneberga" so eins, weil er ja ein ungezogener Junge ist, aber ein Junge, der das Herz auf dem rechten Fleck hat.

Heise: Wollte Lindgren eigentlich Erziehungsvorbilder liefern?

Bueb: Nein, ich glaube nicht, dass sie das liefern wollte, was die pädagogische Literatur ja sonst sehr gern liefern wollte, sondern sie wollte anhand von Geschichten Kindern ermöglichen, ihre eigenen Probleme, ja, darüber nachzudenken oder in Geschichten wiederzuerkennen und bestimmte Lösungen, die da ja angeboten werden, dann auch mit nachzuvollziehen und so weiter, und das ist ihr, glaube ich, ausgezeichnet gelungen.

Heise: Dazu müssen aber vielleicht Erwachsene auch immer wieder hilfreich zur Seite stehen oder Kinder Abstraktion, ja, ein bisschen auch beherrschen. Wenn Sie jetzt mal gucken: Von wem wird "Pippi Langstrumpf" gelesen und wird sie immer wieder verstanden?

Bueb: Also, ich bin kein Lindgren-Forscher, deshalb weiß ich nicht, wie die Rezeption erfolgt ist, ob sie richtig verstanden wurde. Ich habe nur in dem Umfeld, in dem ich zu tun habe, und bei den Menschen, denen ich begegnet bin, den Eltern und Kindern, das Gefühl, dass sie sehr wohl richtig verstanden worden ist. Ich habe nie erlebt, dass jemand sie als Vorbild einer anarchistischen Haltung oder so sich vorgenommen hat, das habe ich nie gehört.

Heise: Wenn wir unsere Kinder so stark machen wollen, wie Pippi Langstrumpf im übertragenen Sinne ist, was können wir Eltern tun?

Bueb: Also, das primäre Ziel von aller Erziehung ist ja, Kinder stark zu machen, sie in ihrem Selbstvertrauen zu stärken und zu bestätigen. Dafür ist auch Pippi Langstrumpf ein gutes Beispiel, denn sie ist ja ein sehr selbstbewusstes Mädchen, die sehr stark ist, die an sich glaubt. Und obwohl sie keine Mutter hatte und der Vater weit weg war, ist sie doch – das ist natürlich auch ein bisschen widersprüchlich – so gut geraten, das heißt, ein so starkes Mädchen geworden, und dass man stark sein soll, dass man an sich glauben soll, das ist ja eine weitere Botschaft, die dieses Buch ausschickt.

Heise: Bernhard Bueb, Autor von "Lob der Disziplin" und Verehrer von Pippi Langstrumpf, wie wir jetzt gehört haben. Herr Bueb, vielen Dank für dieses Gespräch!

Bueb: Ja, bitte schön, Frau Heise. Wiedersehen!