Crusoe im 21. Jahrhundert

14.02.2012
Ernst Augustins moderner Robinson reist durch Zeit, Raum, Innen- und Außenwelt. Er ruft sich ein Taxi, wenn er irgendwo strandet. Seine Innenwelt aber unterscheidet sich kaum von der seines Namensvetters und der unseren.
Richtig erzählen, breit und groß, wie Thomas Mann es konnte, das wollte der Arzt und Psychiater Ernst Augustin schon immer. 1927 geboren, gehört er zu denjenigen, die trotz - oder wegen - der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges Literatur als etwas Existentielles begreifen.

Zu seinem 80. Geburtstag erschien eine achtbändige Werk-Ausgabe. An Thomas Mann erinnert darin allerdings nichts. Augustins Phantasie ist weit quirliger, sein Begriff von Welt surreal. Seine labyrinthisch konstruierten Bücher sind immer mit doppelten Böden und Falltüren ausgestattet. Sie zu lesen heißt, auf Reisen zu gehen, ohne zu wissen, wo man ankommt.

In "Robinsons blaues Haus", Augustins neuem Buch, führt einen der Ich-Erzähler an eine Vielzahl illustrer Schauplätze. Er vergleicht sich mit Daniel Defoe, doch ist er vielmehr ein moderner Wiedergänger von dessen Romanfigur Robinson Crusoe - der ausgesetzte Mensch, der von Ängsten, Einsamkeit und Schicksal Getriebene, der versucht, sich wohnlich einzurichten in der Welt und im Leben.

Während Defoe literaturgeschichtlich am Übergang zum realistischen Erzählern steht, akzentuiert Augustin die phantastischen Elemente. Das Buch einem literarischen Genre zuordnen zu wollen, ist nur möglich, wenn man dieses neu kreierte. Anstatt es Roman zu nennen, könnte man sagen, es sei ein Augustin: eine spirituelle Räuberpistole, phantastische Autobiografie, Schelmengeschichte, Tagebuch. "Robinsons blaues Haus" ist ein literarisches wie auch ein architektonisches Kunstwerk. Wenn der Protagonist über sein Haus spricht, liest sich das wie die Poetik des Autors.

So wie Defoes Robinson sich auf einer Insel ein Zuhause baut, richtet sich Augustins Ich-Erzähler seine Verstecke über die ganze Welt verteilt ein. Er switcht in schneller Folge durch Zeit, Raum, Innen- und Außenwelt. Sitzt anfangs im Zug einem freundlichen kleinen Herrn gegenüber, dann Kontakt suchend als "Robinson" in einem Internetcafé, als Schüler in einem zur Taucherglocke umgebauten Badeofen oder in einer mit Zigarren, Whisky und erlesenen Düften ausgestatteten Lütticher Ein-Zimmer-Wohnung.

Als Bankangestellter ist er in Luxemburg, auf Südseeinseln, in London und New York unterwegs. Er scheint auf der Flucht zu sein, sein Vater hat krumme Geldgeschäfte gemacht, ihm vor seinem Tod einen geheimnisvollen Code und offensichtlich jede Menge verfügbares Kapital hinterlassen, das andere als ihr eigen betrachten. In einem Chatroom teilt er sich regelmäßig einem gewissen "Freitag" mit. Am Ende begegnet er ihm. Es ist der freundliche kleine Herr aus dem Zug und zugleich der Tod.

Ernst Augustins Robinson ist ein moderner Mensch, der, wenn er irgendwo strandet, sein Handy zückt und sich ein Taxi ruft. Seine Innenwelt aber unterscheidet sich kaum von der seines Namensvetters und auch nicht von der unsrigen. Das macht diesen so souverän verspielten Augustin zu einem Buch der Selbstbegegnung, ermöglicht von einem Autor, dessen Gefühl für Sinnlichkeit und Fragilität des Lebens so umfassend wie unvergleichlich ist.

Besprochen von Carsten Hueck

Ernst Augustin: "Robinsons blaues Haus"
C.H. Beck Verlag, München 2012
319 Seiten, 19,95 Euro
Mehr zum Thema