Cospudener See bei Leipzig

Neuseenland liegt in Sachsen

Yachthafen am Cospudener See
Yachthafen am Cospudener See © Foto: Ronny Arnold
Von Ronny Arnold · 26.07.2016
Das Leipziger Neuseenland ist eine Industrielandschaft im Umbruch. In den ehemaligen Tagebaulöchern sind Seen entstanden, die durch Kanäle verbunden werden sollen. Wenn alles fertig ist, wird der Seenverbund eine Wasserfläche von 70 km2 haben.
Dienstagmorgen am Cospudener Seehafen. In der Bucht liegen fest verzurrt und hübsch aufgereiht Dutzende kleine Jachten und Segelboote, die vom leichten Wellengang hin und her gewiegt werden.
Die Sonne scheint, ein idyllisches Fleckchen, nur zehn Kilometer vom Leipziger Zentrum entfernt. Durch den Auwald, der zu den größten erhaltenen und geschützten Beständen Europas zählt, kann man direkt mit dem Rad hierher fahren – oder auch mit dem Kajak.
Gerade öffnet das erste Café seine Türen, auch im kleinen Souvenirladen nebenan wird bereits gewerkelt, nur der Tretbootverleih hat noch geschlossen. Besucher gibt es um diese Zeit nur wenige – hier, wo sich an lauen Sommerwochenenden die Gäste drängen. Jenseits des Hafens sind allerdings schon ein paar Radfahrer, Jogger und Spaziergänger unterwegs. Harald Werner ist gerade auf dem Weg ins Wasser:
"Ich komme aus Thüringen und wir sind schon das dritte Mal hier. Und finden das ganz großartig, die Entstehung einer Seenlandschaft, ein riesen Naherholungsgebiet. Die Kombination aus Radfahren und Wassersport finde ich ganz toll. Radwege sind prima angelegt, ich paddle gern, wir gehen schwimmen. Es gibt eine große Vielfalt und auch die Nähe zu Leipzig, das ist schon toll."
Gibt es das in Thüringen nicht? Muss man da nach Sachsen fahren?
"In dieser Form gibt es das nicht, nein. Das muss man schon so sagen. Radfahren kann man dort natürlich auch, mach ich auch. Aber gerade die Kombination mit den Seen, Markkleeberger See, Störmthaler See. Und das ist ja nur der Südteil, dasselbe passiert ja auch im Norden von Leipzig, ja. Man wird vielleicht künftig in Leipzig wieder eine Kapitänsmütze tragen können. Sehr schön, finde ich."

Ein Land in Bewegung

Leipzig wird immer maritimer – und ist es doch eigentlich schon lange. Wegen seines weit verzweigten Kanalsystems im Westen der Stadt liebevoll "Klein-Venedig" genannt, entstehen im Umland seit über 15 Jahren immer neue Seenlandschaften. Dieses sogenannte Neuseenland wächst Jahr für Jahr, 80 Kilometer weit reicht es schon, von Borna im Süden über Leipzig bis nach Nordsachsen, mittlerweile sogar Richtung Sachsen-Anhalt.
"Land in Bewegung" steht vielsagend auf einem der unzähligen Prospekte, die Sandra Brandt zum Treffen an den Cospudener See mitgebracht hat. Sie ist in der Region geboren, ihre Großeltern haben noch in der Braunkohle gearbeitet. Nun ist sie im Neuseenland für Tourismus und Marketing zuständig, will aus vielen kleinen Puzzleteilen ein großes Ganzes machen:
"Es gibt keine genaue Gebietsdefinition, weil das Leipziger Neuseenland ist ja eine touristische Marke. Deshalb kann man nicht sagen, es ist an der Ländergrenze Schluss. Sondern es beteiligen sich diejenigen, die sich damit identifizieren. Die sagen, wir haben die gleiche Geschichte und die gleiche Entwicklung durchgemacht und haben ähnliche touristische Produkte jetzt im Angebot. Das funktioniert ziemlich gut, weil es doch sehr ähnlich ist. Auch wenn es mal einen Ort dazwischen gibt, der tatsächlich kein Wasser hat, gibt es viele Möglichkeiten über das Thema 'Aktiv' beispielsweise die Verknüpfung herzustellen."
Verknüpft werden die Seen teils auch ganz praktisch über kleine Kanäle, das Angebot für Aktiv-Touristen ist endlos: Radfahren, Wandern, Klettern und Fun-Sport, Wildwasserrafting im Kanupark, Segeln, Surfen, Wakeboarden, alles kein Problem hier. Da, wo noch Tagebaureste übrig sind, werden Quad- und Segway-Touren angeboten. Tauchen geht natürlich auch – und wer es mal ganz entspannt mag, geht einfach eine Runde schwimmen.

Hotels, Ausflugsschiffe und eine Golfanlage

Tatsächlich reicht es heute wohl kaum noch aus, nur ein wenig Sand ans Ufer zu kippen und Badesee dranzuschreiben. Damit mehr als nur ein paar Gäste aus dem Nachbardorf kommen, braucht es zumindest Wege, Straßen und Parkplätze. Und dann wollen Urlauber gern etwas erleben, wollen essen und abends nach dem letzten Glas Wein nicht allzu weit zu ihrer Unterkunft laufen.
Der Cospudener See war vor gut 15 Jahren einer der ersten hier im Braunkohlerevier, der fertig wurde. Heute fahren hier motorisierte Seegastschiffe, neben dem für 200 Boote ausgelegten Hafen stehen schicke Privathäuser, dahinter liegen die sanften Hügel einer Golfanlage. An den anderen Seen ziehen kommunale und private Investoren nach. Sandra Brandt spricht von einem enormen Wachstum:
"Im Jahr 2000 hatten wir im Neuseenland Übernachtungen in einer Größenordnung von etwa 360.000. Ganz, ganz wenig, ein paar Hotels, Pensionen, die sich den Geschäftstourismus angetan hatten. Und wir haben jetzt im Jahr 2015 im Leipziger Neuseenland über 700- bis 720.000 Übernachtungen. Das ist ein Wachstum, was so kaum eine andere Region vorweisen kann. Hängt wirklich mit sehr, sehr vielen privaten Investitionen im Bereich der Übernachtungs- und Freizeit-Wirtschaft zusammen."
Neben der Privatwirtschaft gibt es die öffentliche Hand – wie viel Geld ist da hier rein geflossen?
"Der erste große Baustein ist das Verwaltungsabkommen zur Braunkohlesanierung zwischen Bund und Ländern, das seit 1992 existiert, wo nach meiner Einschätzung sicherlich etwas mehr als zwei Milliarden Euro in das Leipziger Neuseenland geflossen sind. Um erstmal Grundsanierung, also das Grobe, hinzubekommen. Wir haben dann eine zweite Finanzierungsschicht, das sind Mittel, die der Freistaat Sachsen zur Verfügung stellt, um den Folgenutzungsstandard zu erhöhen, also Erschließung zu machen, Häfen zu bauen, Schleusen, Gewässerverbünde, usw. Das ist inzwischen eine ansehnliche Summe jenseits von 100 Millionen Euro, die hier in diesen Raum reingeflossen sind."
Andreas Berkner hat mittlerweile ebenfalls am Tisch Platz genommen. Er ist der Leiter des Regionalen Planungsverbandes Westsachsen und beschäftigt sich schon seit 1992 mit der Entstehung der Seenlandschaft. Berkner kennt die Geschichte der Braunkohle im Leipziger Süden, weiß um die weggebaggerten Dörfer, die geschundene Landschaft. Genau deshalb sei das Neuseenland für die Region eine einmalige Chance, sagt er. Berkner kann sich noch gut erinnern, wie es hier vor 25 Jahren, zur Wendezeit, ausgesehen hat:
"Dann hätten wir hier an einem 60 Meter tiefen Loch gestanden, ohne jeden Freizeitwert, mit Belastungsfaktoren für das Umfeld. Und das ist nicht nur hier so gewesen, sondern an vielen Stellen der Region Leipzig. Es wäre 1989/90 niemand eingefallen, in dieser Region, hier irgendwelchen Aktivitäten wie Radfahren, Schwimmen oder ähnlichem nachzugehen. Damals galt eigentlich nur die Devise: So schnell wie möglich durch dieses Revier. Und man darf nicht vergessen: Der Fakt, dass Leipzig heute die am schnellsten wachsenden Stadt Deutschlands ist, ist ganz maßgeblich darauf zurückzuführen, dass wir heute eben wieder ein intaktes Umland mit Freizeitangeboten haben und was es hier über Jahrzehnte nicht gegeben hat."

Traum von der "internationalen Destination"

Genau diese Fülle an Freizeitangeboten gefällt nicht jedem. Ökoverbände kritisieren die in ihren Augen teils übertriebene Geschäftigkeit an den Seen, den eindimensionalen Blick auf Wirtschaftlichkeit und zu wenig Gespür für den Naturschutz.
Jeder Bürgermeister wolle an seinem See seine eigene Costa Brava, schrieb Anja Werner vor wenigen Tagen in einer Mitteilung des Leipziger Ökolöwen. Der Verein engagiert sich seit Jahren für die geschützten Auwaldgebiete, kritisiert, dass zu viele Motorboote auf den Gewässern unterwegs seien und Gesetze zum Naturschutz nicht immer eingehalten würden:
"Dieses Costa Brava steht für ein Bild von Massentourismus. Und wenn wir unseren Umweltbürgermeister uns anhören, von den Linken, der eben sagt: Wir wollen hier keine Naherholung im Neuseenland, wir wollen eine internationale touristische Destination. Dann ploppt dieses Bild vor unseren Augen auf und wir sorgen uns dann in dem Moment um Schutzgebiete, um Arten, die sich dort gerade wieder ansiedeln."
Noch sei Zeit, meint Anja Werner, an Seen, die gerade erst geflutet wurden und noch nicht umfassend erschlossen sind, der Natur genügend Freiräume zu lassen. Also nicht jeden See zu bebauen oder mit einem Hafen zuzupflastern, die Zahl der privaten Investoren zu begrenzen, denen schon jetzt ganze Seen gehörten und die dort natürlich irgendwann Geld verdienen wollen:
"Zumal es ja Bürgerumfragen gibt, die tatsächlich darauf abstellen und als Ergebnis eben haben, dass sich die Bürger der Region eben Naherholung wünschen und intakte Natur, gute Gewässerqualität, eben keinen Massentourismus. Und dann wäre es eben sinnvoll, einzelne Seen oder einzelne Zonen an Seen – ich denke da z. B. an den Störmthaler See, der naturschutzfachlich noch einiges hergibt im Gegensatz zum Cospudener See, da ist ja schon so ein Rummel drauf an Touristenzahlen – das wäre halt wirklich schön, da klare Absprachen zu finden. Für das wo man sieht, das ist wirklich wertvoll, das sollten wir uns auch erhalten."
Sandra Brandt und Andreas Berkner können mit diesen Vorwürfen nur wenig anfangen. Brandt betont, man habe natürlich auch den Naturschutz im Blick, genehmige nicht jeden Ausbau. Berkner wird konkreter:

Die Seenlandschaft schützt auch vor Hochwasser

"Wir haben genügend ökologischen Sachverstand, um zu wissen, dass wir unsere Seen kaputt machen, wenn wir sie übernutzen. Insofern haben wird das von vornherein im Blick gehabt, auch bei der Planung. Und wir können jeden einzelnen See hernehmen, mehr als maximal ein Drittel der Uferlinie ist nie mit harter Nutzung versehen. Es ist eher weniger. Und es war eine Grundlage der Planung, dass wir gesagt haben, wir wollen vermeiden, dass wir diese Überlastungseffekte haben. Und ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen, wenn ich heute schaue, wo wir Naturrefugien der Bergbaufolgelandschaft haben. Wir haben sehr viele! Das sind auch Gebiete, wo die Natur machen kann. Wir haben die "Göhrener Insel" oder die "Ketzler Aue", Kahnsdorfer See, am Grabschützer See teilweise Naturlehrpfade. Wir haben die "Goitzsche-Wildnis". Und man kann diese Dinge natürlich auch touristisch erleben, Vögel beobachten oder geführt Orchideen sehen in der Landschaft. Das ist alles möglich in diesem Raum."
Und noch etwas ist möglich durch diese neue Seenlandschaft: Leipzig vor Hochwasser zu schützen. 2013 wurde eine mittlere Katastrophe im Südraum wohl nur dadurch verhindert, dass man 23 Millionen Kubikmeter Wasser aus umliegenden Flüssen in den großen Zwenkauer See laufen ließ. Eine gute Sache – da sind sich soweit mal alle Seiten einig.
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