Comic-Partituren und Badewannen-Blues

Von Lutger Fittkau · 13.05.2012
John Cage wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Cage lotete stets die Grenzen der Musik aus und zeigte die geheimen Verbindungen zu anderen Kunstrichtungen auf. Die Darmstädter Mathildenhöhe zeichnet diese Verbindungslinien jetzt in einer opulenten Ausstellung nach. Sie zeigt aber auch: Avantgarde darf auch Spaß machen!
"Stripsody" heißt dieses Musikstück der amerikanischen Sängerin Kathy Berberian aus dem Jahr 1966. Eine Arbeit für Radio Bremen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Comic-Komposition. Die Partitur besteht aus Comic-Zeichnungen, die erzählen von Essen und Trinken über Babyschreien bis zu einem Mord. Kathy Berberian baut außerdem winzige Musikfetzen ein aus Verdis "La Traviata" oder dem Beatles-Song "Ticket to ride". Diese kühne Art der Neuen Musik kam damals bei einem Kritiker gar nicht gut an.

"Bildergeschichte mit Sprechblasen für geistig Minderbemittelte."

Notationen, also das grafische Festhalten musikalischer Parameter, sind die eigentlichen Stars der Darmstädter Ausstellung. Dutzende, oft sehr witzige Partituren der Großmeister der Neuen Musik an den Wänden ziehen sich wie ein roter Faden durch das "House full of Music", die passende Musik kann man sich jeweils über den Kopfhörer dazuklicken.

Die präsentierten Partituren reichen von Arnold Schönbergs "Reihenscheiben für Bläserquintett" Op. 26 über Kurt Schwitters "Ursonate Serie III" bis zu Brian Enos "Music for Airports".

Kein Notenblatt, sondern Videobilder gibt es von den "Einstürzenden Neubauten" in der Abteilung "Zerstören". Ebenso wie vom George Macunias, der beim Zertrümmern einer Violine in der Aufführung eines Werkes von Nam June Paik gefilmt wurde.

Gemeinsam mit John Cage war Nam June Paik 1958 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, die den Beginn der europäischen Cage-Rezeption markieren. Ralf Beil, der Kurator der Ausstellung, will einen Cage zeigen, der die witzige, dadaistische Seite der Neuen Musik verkörpert.

"Man denkt ja immer, neue Musik, das sind diese verkopften Leute, die sich da so ein bisschen hinsetzen in schwarzen Klamotten und dann schlimme Dinge hören. Das ist eben ganz und gar nicht so, John Cage zeigt uns, dass man durchaus Lachen kann, wenn er mit Barmixern und Badewannen und Blumen und so weiter hantiert."

Die Denker in den schwarzen, existenzialistischen Klamotten, die sich mit Adorno persönlich zum Musiktheoriegespräch oder zum Konzert trafen, die gab es aber auch in den 1950er-Jahren auf der Darmstädter Mathildenhöhe:

"Da waren Stockhausen da, da war Luigi Nono, da war Pierre Boulez. Also es ist wirklich an historischen Ort, wo neue Musik eigentlich aufgebrochen ist, wo wir jetzt in einem großen Jahrhundertpanorama zeigen können, was alles Kunst und Musik verbindet und dass das eben alles ganz dicht und ganz eng zusammenhängt."

Schon in früheren Ausstellungen auf der Mathildenhöhe wie "Gesamtkunstwerk Expressionismus" hat Kurator Ralf Beil eindrucksvoll gezeigt, dass er ein besonderes Talent dafür hat, die Verbindungslinien verschiedener Kunstrichtungen der Moderne wie Malerei, Theater und Film so zu ziehen, dass der Betrachter die unsichtbare kulturelle Schrift sieht, die dem zugrunde liegt. Diesmal ist es ihm – mit der Tonkunst im Zentrum des Geschehens – wieder perfekt gelungen.

Ralf Beil legt ein hundert Jahre währendes Avantgardemusik-Kontinuum offen, das von Marcel Duchamps' Notizen zu Klang und Musik aus dem Jahre 1912 bis heute reicht.

"Duchamps und Cage treffen sich in Amerika, spielen zusammen Schach, Merce Cunningham gehört dazu, dann geht es weiter über Bruce Nauman und Warhol, Warhol hört die 'Vexation' von Satie in der Wiederentdeckung von Cage ... Da spielt John Cale mit der Esther Naher bei Velvet Underground, bei der Band, die Warhol protegiert, Warhol kommt selber auf die Idee – durch diese 'Vexation' von Satie –, dass diese Wiederholung etwas ganz Besonderes hat, was ganz Eigentümliches, macht Empire State Building, diese großartigen Filme, die sozusagen immer endlos laufen und nur ein Bild zeigen ... Es ist wirklich so ein Kontinuum von 1912 bis 2012. Und das ist kein Konstrukt der Ausstellung, sondern es kommt aus den Künstlern heraus. Aus der Musik."

Die "Sinfonia" von Luciano Berio. Um dem Darmstädter Publikum den Witz dieses Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, haben Ralf Beil und sein Team geradezu Forschungsarbeit betrieben. Auf einer großen Wand ist die Partitur durch Farben so zerlegt, das kenntlich wird, wie Berio Musikstücke von Bach und Brahms über Mahler uns Schönberg bis Stockhausen in seine Symphonie einfließen lässt und damit zeigt, wie stark auch die Musik der Moderne auf den Schultern der Riesen aus den anderen Jahrhunderten ruht.

Wie gesagt: Notationen sind der eigentliche Star der großartigen Darmstädter Ausstellung. Und der Kurator Ralf Beil, der es wieder geschafft hat, kunstvoll die Verbindungslinien aufzuzeigen, die zwischen maßgeblichen Künstlern der Moderne bestehen. Auch im Feld der Musik.

Service:
Die Ausstellung "A House Full of Music" ist vom 13. Mai bis 9. September 2012 in der Mathildenhöhe Darmstadt zu sehen.