Comic

Eine Welt voller Wunder

Von Frank Meyer · 19.12.2013
Mehr als 3000 Comicstrips hat Bill Watterson im Laufe der Jahre gezeichnet. Sie erzählen vom sechsjährigen Calvin und seinem Stofftiger Hobbes - und der Macht seiner Fantasie.
"Calvin und Hobbes" von Bill Watterson ist der vorerst letzte amerikanische Zeitungscomic, der ein großes Publikum erreicht und das Genre mit neuen Ideen vorangebracht hat. Von 1985 bis 1995 hat der Cartoonist Bill Watterson seine tägliche Folge gezeichnet. Sie wurde schnell zu einem riesigen Erfolg, mehr als 2400 Zeitungen haben sie nachgedruckt, die Bücher mit Wattersons gesammelten Strips haben eine weltweite Auflage von über 30 Millionen erreicht. In Deutschland ist jetzt zum ersten Mal eine Gesamtausgabe aller "Calvin und Hobbes"-Zeichnungen von Bill Watterson erschienen.
Die Serie ist mit einer genialen Grundidee rund um den sechsjährigen Calvin und seinen Tiger Hobbes angelegt. Für Calvin ist der Tiger mal ein gefährlicher Gegner, mal ein treuer Gefährte, auf jeden Fall immer höchst lebendig. Für alle anderen aber ist Hobbes nur ein Plüschtier. In dieser Konstellation steckt schon ein grundlegendes Thema der ganzen Serie: die Macht der Fantasie.
Renitent, maßlos, altklug - und sechs Jahre alt
Mit anderen Ebenen, mit allegorischen, philosophischen und politischen Aufladungen spielen die Namen der Hauptfiguren Calvin und Hobbes. Der renitente, maßlose und altkluge Sechsjährige hat nichts von einem Calvinisten, auch wenn er sich gelegentlich auf die calvinistische Vorherbestimmungslehre herausredet, um nicht für seine Eskapaden belangt zu werden.
Der Tiger Hobbes schaut allerdings ähnlich skeptisch auf die Menschen wie der britische Staatstheoretiker Thomas Hobbes, neu befeuert wird der Skeptizismus des klugen Tigers von seinen Erfahrungen mit Calvin und dessen Eltern.
Einige Situationen ziehen sich wie ein roter Faden durch die über 3000 Comicstrips. Calvin diskutiert immer wieder mit seinem Vater über Demokratie in der Familie, er muss erschüttert erfahren, dass er seinen Vater nicht abwählen kann, dass der wie ein Diktator auf Lebenszeit eingesetzt ist. Calvin: "Kurz gesagt, nur Aufstand und Exil können eine Veränderung bringen?" Vater, konsterniert: "Die Richtung, die das Gespräch nimmt, gefällt mir nicht."
Calvin versucht allerdings trotzdem unverdrossen, seinem Vater mit Wählergunst-Grafiken und düsteren familienpolitischen Prognosen Zugeständnisse abzuluchsen, diese Szenen gehören zu den komischsten in der ganzen Serie.
Sarkastischer und melancholischer Humor
Faszinierend sind die Spiegelungen von Calvin Welt in seiner uferlosen Fantasie. Aus den öden Schulstunden bei Lehrerin Wurmholz flieht er als Raumfahrer Spiff, als Tyrannosaurus, als Superheld „der Unfassbare“ oder als Privatdetektiv „Tracer Bullet“. Seine schrägsten Statements macht Calvin mit Galerien von Schneemännern, die als gefräßige Monster, Selbstmörder oder Schrumpfkopfverkäufer die Nachbarschaft erschrecken.
Im Schnee spielt auch das letzte Bild, das Bill Watterson nach zehn Jahren Arbeit für diese Serie gezeichnet hat. Es ist Neuschnee gefallen, "wie ein großes weißes Blatt Papier zum Bemalen", sagt Hobbes. Calvin setzt hinzu, bevor er mit Hobbes auf den geliebten Schlitten steigt: "Die Welt ist voller Wunder, Hobbes, alter Kumpel! Wie für uns gemacht!"
Wie Bill Watterson dieses Wunder durch den sarkastischen und melancholischen Humor seiner "Calvin und Hobbes"-Serie hindurchscheinen lässt, das macht ihm keiner nach.

Bill Watterson: Calvin und Hobbes Gesamtausgabe
Übersetzt von Waltraud Götting und Alexandra Bartoszko
Carlsen Verlag, Hamburg 2013
1440 Seiten, 99 Euro