Chronist

Erkenntnisfördernder Pessimist

Der deutsche Schriftsteller Günter Kunert sitzt am 28.02.2014 im Wohnzimmer seines Hauses in Kaisborstel (Schleswig-Holstein), neben ihm der Kater "Pussy".
Der deutsche Schriftsteller Günter Kunert sitzt am 28.02.2014 im Wohnzimmer seines Hauses in Kaisborstel (Schleswig-Holstein). © picture alliance / dpa / Carsten Rehder
Von Michael Opitz · 06.03.2014
Seiner Sorge über das Weltgeschehen und -vergehen verleiht Günter Kunert in einer Sprache poetischen Ausdruck, die unverwechselbar ist. Kunert, der jüdischer Abstammung ist, hat sich eingeprägt, wozu die Bestie Mensch in der Lage war.
Als 21-Jähriger debütierte Günter Kunert 1950 mit dem Gedichtband "Wegschilder und Mauerinschriften“ im Ostberliner Aufbau-Verlag. Seit 1963 erschienen seine Bücher im Osten und im Westen. Die DDR, in der er 30 Jahre lebte, verließ Kunert 1979, drei Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung, gegen die er, zu den Erstunterzeichnern gehörend, protestierte.
Zehn Jahre später verschwand die DDR von der politischen Landkarte, während der Autor, der am 6. März 85 wird, weiterhin produktiv ist. Etwa 30 Gedichtbände sind seit Kunerts lyrischem Erstling erschienen, wobei sich der Ton des Autors verändert hat. Von "Alterslyrik im Parlando“ spricht Hubert Witt in seinem Nachwort zu den in "Fortgesetztes Vermächtnis“ versammelten Gedichten.
Schreiben als Masochismus
Kunert, skeptisch, dass Literatur irgendetwas bewirken könne, schreibt dennoch unermüdlich weiter. Das grenzt ein wenig an Masochismus, führt aber dazu, dass er sich als Autor stets auch Gedanken über das Schreiben macht, sodass Poesie nicht zur alltäglichen Gewohnheit wird. Aus der "abgründigen Schwärze / fliegt oder flüchtet“ das Gedicht "durch Mauern und Wände, vorbei / an Bajonetten und grellen Fassaden“, heißt es in "Das Gedicht“, das sich in dem neuen Band findet.
Und in "Schicksale“ zeichnet er den Weg eines Gedichts von der Geburt bis ins Grab "der Bibliotheken“ nach. Das Gedicht wird "geduldet, solange es still bleibt“. Ist es aber "ungehorsam und ungehörig“, wird es – eingezwängt zwischen zwei Buchdeckeln – in der "Großen Gruft der Bibliotheken“ aufgebahrt. Diese das eigene Schreiben begleitende Sinnfrage hat Kunert bereits in dem Gedicht "Deklaration“ gestellt, das sich in dem 2009 erschienenen Band "So und nicht anders“ findet. Und in "Nachruf auf das Gedicht“ aus "Als das Leben umsonst war“ (2009) beschreibt Kunert das Gedicht als ein zartes Gebilde: "Vergleichbar dem Netz / einer Spinne. Worte haben sich / darin verfangen, um sacht / zu vergehen.“
Er gilt als "Unheilsprophet“
Inzwischen gilt der erkenntnisfördernde Pessimist Kunert als "Unheilsprophet“. In seinem Aufzeichnungsbuch "Tröstliche Katastrophen“ (2013) bekennt er: "Ich wäre lieber durch 'das Rettende’ Hölderlins wiederlegt worden, doch wo er es wachsen sah, trägt nichts mehr Frucht, herrscht mentale und moralische Wüste.“ Kunerts Gegenwartsdiagnosen basieren auf dem Erinnern. Ihm hat sich eingeprägt, wozu die Bestie Mensch in der Lage war.
Die Geschichte, insbesondere die deutsche, ist Kunert auch dann präsent, wenn er in seiner Lyrik bilanziert, wie weit es die Gattung Mensch gebracht hat. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung war Kunerts Schicksal während der Nazizeit besiegelt. Er blieb ein Außenseiter, der genau registriert, was sich ereignet hat und ebenso genau beobachtet er, was in der unmittelbaren Gegenwart passiert.
Der Chronist Günter Kunert ist mit zunehmendem Alter zwar weniger ängstlich geworden, doch seine Besorgnis wächst ständig. Seiner Sorge über das Weltgeschehen und -vergehen verleiht Kunert in einer Sprache poetischen Ausdruck, die unverwechselbar ist. Dieser zweifelnde Außenseiter sieht sich als "Chronist des Beiläufigen“. Indem er Nebensächliches festhält, verleiht er ihm Substanz.

Günter Kunert: Fortgesetztes Vermächtnis. Gedichte
Hanser Verlag, München 2014
176 Seiten, 14,90 Euro

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