Chronik des Leidens

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 14.11.2005
Iwan Bunins war alles andere als ein Sympathisant der russischen Revolution. In seinem Tagebuch "Verfluchte Tage" schildert er den Schockzustand nach der "proletarischen" Revolution aus der Sicht eines adeligen Schriftstellers.
Wer sein "Revolutionstagebuch" unter dem Titel "Verfluchte Tage" erscheinen lässt, der ist alles andere als ein Sympathisant dieser Revolution. Iwan Bunins Aufzeichnungen beginnen im Januar 1918 mit dem Satz: "Dieses verwünschte Jahr ist zu Ende." Kein Zweifel, so artikuliert sich kein Anhänger Lenins oder Trotzkis, und der Ausblick: "Doch was weiter? Vielleicht kommt etwas noch Schrecklicheres. Wahrscheinlich sogar." bewahrheitet sich in den Aufzeichnungen auf den folgenden Seiten, die bis zum Sommer 1919 reichen.

Bunin beschreibt diese Zeit in kurzen und alltäglichen Skizzen, die vor allem eines freilegen: den Schockzustand, in dem sich ein adeliger Schriftsteller mit ästhetischen Wurzeln im 19. Jahrhundert wieder findet, nachdem die "proletarische" Oktoberrevolution von 1917 stattgefunden und sich – bis auf weiteres – behauptet hat. Er ist dabei vor allem ein penibler Beobachter. Die eigenen Nöte – das Schreiben bei rußendem, die Augen schädigendem Öllicht etwa – nehmen den kleinsten Raum ein. Wichtiger ist, was draußen geschieht: jene kleinen Ansammlungen, in denen "das Volk" seine Meinung kundtut, oder die seltsamen menschenleeren Abendstunden, in denen die begründete Angst vor Gewalttätigkeiten und die Strom sparende – von den Behörden verhängte – Zeitverschiebung eine unwirkliche Stimmung erzeugen. Obsessiv kommentiert der Autor die spärlichen Informationen aus den Zeitungen, die absurden Aufrufe und propagandistischen Schlagzeilen, nicht zuletzt die Gerüchte, die unter den Freunden und Bekannten kursieren und die vom nahen oder fernen Sturz des mühselig sich behauptenden Regimes im Bürgerkrieg handeln.

Bunins Tagebuch ist durchaus eine Chronik des Leidens – an der Not, der Rohheit, der Kulturlosigkeit, die der entfesselte Pöbel vor allem zur Schau stellt –, es ist aber auch ein politisch-historisches Pamphlet mit anthropologischer Note. Liegt nicht in dieser Freude am Zerstören, am ausschweifenden Genuss, den das Destruktive bereiten kann, ein zutiefst russischer Zug, der sich früher in den legendären Aufständen der Bauernrebellen Stepan Rasin oder Jemeljan Pugatschow seinen Ausdruck verschafft hat? Was ist zu halten von jenem "volkstümelnden" und dabei maßgeblichen Teil der russischen Intelligenzija, der sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang damit abrackerte, Bildung und Kultur ins Volk zu tragen in der utopischen Erwartung, so werde "der bessere Mensch" entstehen? Die intellektuellen Debatten – so legt es Bunin nahe – waren über Jahrzehnte auf dem Papier gut und trefflich zu führen. Was aber jetzt, da die "Kinder" jener Volkstümler Gestalt annehmen und sich als primitive, gewalttätige, gewissenlose Rabauken erweisen, die jede Gelegenheit nutzen, um zu rauben, zu zerstören, Gewalt anzudrohen oder auszuüben?

Bunins Tagebuch ist so – einerseits – Zeugnis, zugleich und - andererseits – literarisches Produkt: Erstmals ab1925 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift veröffentlicht – da hatte sich der Autor längst nach Paris gerettet –, 1935 in einem russischen Emigrantenverlag in Berlin im Rahmen einer Werkausgabe erneut publiziert, haben die "Verfluchten Tage" jeweils Überarbeitungen erfahren. Es mag sein, dass ein solches Vorgehen die Authentizität des Textes schmälert, deutlich wird aber, dass es Bunin neben der Zeitzeugenschaft vor allem darum ging, seine kultur- und politikkritischen Reflexionen zu übermitteln.

Dieses erstmals in deutscher Sprache vorgelegte Tagebuch komplettiert eine Reihe von russischen Texten, die die grundstürzenden Erschütterungen jener Zeit beschreiben, etwa das Petersburger Tagebuch von Sinaida Hippius oder Isaak Babels Roman "Die Reiterarmee".

Der Autor: 1870 in Woronesh in einer Familie, die zum Landadel gehörte, geboren, die Familie verarmt in jener Zeit. Ab 1889 arbeitet er als Journalist und Redakteur, beginnt, Kurzgeschichten zu veröffentlichen. 1894 Begegnung mit Lew Tolstoi, stärkere Hinwendung zur Literatur und ihren Kreisen, Begegnungen mit Anton Tschechow und Maxim Gorki im Verlauf der 90er Jahre, veröffentlicht Gedicht- und Prosabände, die ihn als Schriftsteller etablieren (1903 Puschkin-Preis der Russischen Akademie).Unternimmt ausgedehnte Reisen (Türkei, Naher Osten, Ägypten, Indien, Ceylon). Der Oktoberrevolution steht er mit vehementer Ablehnung gegenüber – im gleichen Maß, wie Gorki sich für Lenin & Co. erwärmt, kühlt sich die Beziehung Bunins zu Gorki ab bis zum endgültigen Bruch. Flieht aus Moskau in die "weiße" Zone, nach Odessa, von wo aus ihm und seiner Frau im letzten Moment vor der Einnahme der Stadt durch die Roten die Flucht nach Konstantinopel, dann nach Frankreich gelingt. Bunin gilt insbesondere als vorzüglicher Kenner des russischen Dorfes, 1927 erscheint sein bekanntester Roman, "Das Leben Arsenjews. 1933 erhält er – als erster Russe überhaupt – den Nobelpreis für Literatur. 1950 erscheinen seine Memoiren. In jener Zeit ist er bereits bei schlechter Gesundheit, er stirbt am 8. November 1953.

Iwan Bunin: Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch
Aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dorothea Trottenberg
Mit einem Nachwort von Thomas Grob
Dörlemann Verlag, Zürich 2005
260 Seiten, 19,80 Euro