Christliche Rituale und Schamgefühl

Der "Mitmachgottesdienst" kommt nicht bei allen an

Nach der Ausspendung des Abendmahls in der Philippuskirchgemeinde in Lohmen reichen sich die Teilnehmer des Abendmahls die Hände und sprechen sich gegenseitig einen Segen zu; Aufnahme vom April 2012
Nach der Ausspendung des Abendmahls in der Philippuskirchgemeinde in Lohmen reichen sich die Teilnehmer des Abendmahls die Hände und sprechen sich gegenseitig einen Segen zu; Aufnahme vom April 2012 © picture alliance / zb
Der evangelische Theologe Kristian Fechtner im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 19.07.2015
Menschen schämen sich – für Makel, Defizite oder Ungenügen. Aber auch religiöse Gefühle können Scham auslösen, glaubt der evangelische Theologe Kristian. Er wünscht sich, dass der Gottesdienst darauf Rücksicht nimmt und das Bedürfnis nach Distanz respektiert.
Kirsten Dietrich: Scham ist ein sehr zwiespältiges Gefühl: Wahrscheinlich hat es niemand gern, irgendwie regulieren lässt es sich schwer – und populär ist es auch nicht. Und trotzdem: Scham kann auch schützend wirken – nicht jede Schamgrenze muss fallen. Warum es auch beim Nachdenken über Religion und Glauben sinnvoll ist, Scham und Schamgefühle mit einzubeziehen, darüber habe ich mit Kristian Fechtner gesprochen. Er ist Professor für Praktische Theologie in Mainz, und er sagt: Vieles an dem, wie Menschen sich beim Glauben und in Kirchen verhalten, hat mit Scham zu tun – aber keiner merkt das so richtig. Ich habe Kristian Fechtner gefragt, warum eigentlich gerade jetzt, in Zeiten von Selfies und permanenter Selbstdarstellung, die Scham zum Thema wird.
Kristian Fechtner: Die eine Seite ist tatsächlich, dass die Empfindung Scham heute fast schon anachronistisch erscheint. Man könnte fast vermuten, dass Scham eines der historisch mittlerweile vergangenen Gefühle ist, also man würde bei Efie Briest noch gucken oder in den 50er-Jahren, aber mein Eindruck ist, das ist nur die eine Seite der Medaille.
"Heute schämt man sich seines Doppelkinns"
Die andere Seite ist, ich glaube, dass die Gegenwart alles andere als schamfrei ist, also das mag sich vielleicht nicht mehr öffentlich auf Nacktheit beziehen, aber ganz viele Aspekte unseres Lebens sind eben hoch schambesetzt, also das Alter beispielsweise, also man schämt sich nicht mehr irgendwo nackt zu sein, aber man schämt sich seines Doppelkinns.
Ich glaube, es gibt deutliche Selbstgefühle – auch heute – von Makel, von Defizit, von Ungenügen, und die sind dann mit Scham verbunden. Vielleicht müsste man sagen, dass heute sich die Scham nur etwas besser verbirgt als früher, also dass wir nicht in schamfreien Verhältnissen leben, sondern in Verhältnissen, in denen die Scham sich selbst tarnt und nicht mehr so ohne Weiteres erkennbar ist.
Dietrich: Das heißt, dass man zum Beispiel dann mitmacht bei der Selbstentblößung, aber dann schaut, dass man auch wirklich dann was Präsentables vorzuzeigen hat, also dass man das Unvollkommene verbirgt.
Fechtner: Das ist das Eine. Das Problem ist, dass man sich selbst nicht am Computer nacharbeiten kann, wie das bei den Bildern von sich selbst ja der Fall ist, also dass man darum weiß, dass man unvollkommen ist, dass da etwas ist, was von dem abweicht, was man als eigenes Selbstbild gerne präsentieren möchte. Und das andere ist – und das, glaube ich, ist auch ganz wichtig –, dass wir mittlerweile in einer Zeit leben, in der man sich sogar schämt, wenn man sich schämt, also dass man sich seiner Scham auch schämen kann, wenn man selbst merkt, dass man bei bestimmten Dingen eigentlich ungern mitmachen würde, dass aber peinlich wäre, sich dem zu entziehen, dann haben wir eine merkwürdige Figur des sich seiner Scham schämen. Und das verdoppelt das und verstärkt das, und dann macht man trotzdem mit.
Dietrich: Ihre These ist nun, dass man, wenn man das Gefühl der Scham mitbedenkt, viel besser versteht, wie manche Formen von Religion, von kirchlichem Leben heutzutage gelebt werden, wie sie sich darstellen. Warum ist das so?
"Distanzierte Kirchlichkeit" - ein neues Phänomen
Fechtner: Wir nehmen schon seit geraumer Zeit etwas wahr, was wir distanzierte Kirchlichkeit, distanziertes Christentum nennen, und nun ist die Frage, ist das nicht nur etwas Soziales, wo Menschen den Kontakt zur Kirche und zu christlichen Tradition verlieren, sondern ist das gewissermaßen auch eine Lebensform des Christentums, in der Glaube dann - oder Religiösität - doch eine gewisse Rolle spielt, auch wenn sie mit bloßem Auge auf Anhieb nicht unbedingt erkennbar ist.
Soll heißen, wir leben, glaube ich, in einer Religionskultur, in der wir Religion nicht mehr nach außen hin leben, exponiert und religiös darstellen, sondern in gewisser Weise abdecken und mit einer gewissen Distanz auch zu den sichtbaren kirchlichen Formen.
Dietrich: Was ist dann die Scham? Dass – man weiß es eigentlich –, sozusagen die Theorie etwas anderes verlangt, nämlich zum Beispiel mehr Mitmachen, mehr Dabeisein?
Fechtner: Das ist in dem Bereich ja sehr, sehr offensichtlich: Also es gibt ein Idealbild gelebter Kirchlichkeit und gelebter Christlichkeit, das heißt in entschiedener Form, in bewusster Form, in überzeugter Form, in mutiger Form, in regelmäßiger Form, und unterhalb dieses Bildes, dieses Selbstbildes existieren eben die Selbstwahrnehmungen, in denen man sehr deutlich merkt, das ist überhaupt nicht meine Form, das ist überhaupt nicht meine Gestalt, das zu leben, was mich da bewegt, das ist in meinem Leben viel undeutlicher viel schillernder, viel changierender, viel partikularer, als das in dieser vollmundigen Entscheidungsform suggeriert wird. Und das erzeugt auf der einen Seite so eine Distanz zu sich selbst und zu diesen Idealbildern, aber umgekehrt, man sieht auch diese entschiedenen Formen mit einer gewissen Schamhaftigkeit an, also so will man nun auch das nicht leben und kann das auch nicht.
Dietrich: Also dass man zum Beispiel so Menschen, die laut und fröhlich ihren Glauben bekennen, also wirklich auch so, dass andere dem gar nicht ausweichen können, eher sich dafür fremdschämt, oder wenn die Zeugen Jehovahs an den Haustüren klingeln der sowas?
Fremdschämen - sich für jemanden schämen
Fechtner: Das ist in der Tat so. Wenn wir von Fremdschämen sprechen, das ist ja ein Begriff, der in den letzten Jahren erst aufgekommen ist, könnten man ihn ja so umschreiben, man spürt eine Scham hinter etwas, was sich selbst nicht schämt, also da kommen mir Menschen entgegen, die offensichtlich völlig schamfrei ihren möglicherweise für mich absonderlichen Glauben leben, aber die offensichtlich damit kein Problem haben.
Und Fremdscham heißt, ich spüre, dass hinter diesen vermeintlich schamfreien Zonen bei Menschen doch durchaus Scham steckt und ich übernehme die und trage die aus und mir ist das dann peinlich. Denken Sie an so etwas wie die Nachmittagsprogramme mancher Fernsehsender, da zuzusehen, das ist ein hohes Maß an Fremdschämen, weil man etwas übernimmt, was gewissermaßen auf der anderen Seite nicht so sichtbar ist.
Dietrich: Erklärt das vielleicht auch die heftigen Reaktionen auf das muslimische Kopftuch? Dass man dann denkt 'Oh, da sind Menschen, die zeigen ja ihren Glauben ganz deutlich, die kann ich mit ihrem Glauben erkennen', und dass das in der Außenperspektive dann Scham oder eben dieses Fremdschämen auslöst?
Fechtner: Also beim Kopftuch ist ja das Besondere, dass man sich fragen kann, wenn muslimische Frauen, junge muslimische Frauen Kopftücher beispielsweise tragen, zeigen sie sich dann oder verbergen sie sich dann? Und genau dieses Spannungsfeld ist im Übrigen auch das Spannungsfeld der Scham. Scham ist ein Zwiespalt zwischen sich zeigen und sich verbergen, und ich glaube, dass diese Doppelbewegung eben auch in dem steckt, was wir da als Kopftuch erleben. Es wird sozusagen eine Blöße bedeckt, aber indem man das tut, zeigt man sich in einer bestimmten Art und Weise, und wir erleben das ja auch genau in diesem Spannungsfeld – ist das ein selbstbewusstes Sichzeigen mit Kopftuch oder ist es ein sich zurücknehmendes Bedecken im Angesicht von Blicken, die man eben abwehren will.
Und dieses Sich-Zeigen in dieser Art und Weise ist bestimmt etwas, was bei Nichtmuslimen eben auch eine heftige Reaktion auslöst, also man muss sich dazu ins Verhältnis setzen, und hier wird ja nicht nur Religion, sondern eine bestimmte Kultur gelebt, die sehr selbstbewusst ihren öffentlichen Raum oder ihre öffentlichen Zeichen auch einnimmt, und das macht es uns schwer, dazu uns ins Verhältnis zu setzen.
Dietrich: Ist diese Art des Glaubens, die Sie diskretes Christentum genannt haben, dann vielleicht ein sehr evangelisches Phänomen? Also schon die katholischen Christen und noch mehr die Muslime haben ja einfach ganz andere Formen, sozusagen ihren Körper im Ritual zu bewegen und deswegen vielleicht Möglichkeiten zu finden, Scham gar nicht erst aufkommen zu lassen.
"Glaube berührt das Innerste der Person"
Fechtner: Ja und nein. Also vermutlich schlägt sie sich schon darin nieder, dass ich evangelischer Theologe bin und mit dem Glauben etwas sehr Innerliches, sehr Intimes verbinde. Glaube ist etwas, was das Innerste einer Person berührt und deswegen ist es aus meiner Sicht auch nicht verwunderlich, dass der Bereich von Religion und der Bereich des Glaubens ein schamgeschützter oder ein sich schamschützender Bereich ist und darauf Wert legt, sich nicht in jeder Situation preiszugeben. Insofern, das ist, glaube ich, das Evangelische, der Zugang zu diesem diskreten Christentum.
Auf der anderen Seite glaube ich, dass eigentlich alle großen Religionsformen, alle verschiedenen Konfessionen in der Spätmoderne so etwas wie eine diskrete Religionsform auch ausbilden, also auch auf katholischer Seite, auch auf muslimischer Seite und zwar überall dort, wo sich Religion verbindet und verwandelt zu den uns geläufigen spätbürgerlichen Lebensformen und Kulturformen. Also wir leben in einer Zeit, wo wir nach wie vor doch eine Unterscheidung von öffentlich und privat kennen und wir davon wissen, dass bestimmte Dinge nicht unmittelbar ins öffentliche Leben gehören, und das gilt dann eben auch für Religion, nicht nur für evangelisch gelebtes Christentum, sondern ich glaube, dass es so etwas wie diskretes Christentum beispielsweise auch auf katholischer Seite gibt oder in Bereichen eines Islams, der sich europäisiert und auf bestimmte Kulturformen hier auch einlässt.
Dietrich: Was würden Sie denn vorschlagen – wie geht man mit diesem Phänomen um? Also muss man damit überhaupt umgehen, und muss man da jetzt Rückzugsräume für die Menschen schaffen zum Beispiel, die innerhalb der Kirche sein wollen, aber nicht genau wissen, wie sie sich da schamfrei beim Ritual bewegen sollen?
Fechtner: Also wenn ich von diskretem Christentum spreche, dann ist das kein Programm also in dem Sinne, dass man daraus jetzt etwas machen müsse und dass man das entwickeln müsse oder in dieser Weise, also Kirchenreformprogramme haben wir ja hinreichend genug, es ist eher eine Wahrnehmungshilfe. Aber in der Tat, ich würde mich sehr dafür aussprechen, dass man die Bedürfnisse von Distanz, von sich in Abstand setzen, bestimmte auch Formen, sich nicht exponieren zu müssen innerhalb unserer religiösen und kirchlichen Praxis, geltend macht.
Dietrich: Das heißt, der Mitmachgottesdienst ist nicht das allein Seligmachende Credo.
"Undercover im Gottesdienst unterwegs sein"
Fechtner: Nein, wir haben in den vergangenen Jahren vielleicht etwas zu stark Beteiligung als Mitwirkung verstanden, also dass man immer schon was tun muss im Gottesdienst und sich irgendwie zeigen muss und etwas darstellen muss. Das mag ein Weg sein, und es gibt Menschen, für die das eine angemessene Form der Beteiligung ist. Es gibt aber auch viele Menschen, die einen Gottesdienst als Verschonraum erleben und erleben wollen, also als etwas, wo sie gerade sich nicht exponieren müssen, sondern empfänglich sein können, berührt sein können von etwas, was da gesagt wird und was da getan wird und was da zur Darstellung kommt, und ich glaube, dass das die Stärke auch des gottesdienstlichen Rituals oder eine Stärke des gottesdienstlichen Rituals ist, dass es das Subjekt schützt und etwas verdeckt und man in dieser Weise auch, wenn Sie so wollen, undercover im Gottesdienst unterwegs sein kann. Und das heißt noch lange nicht, dass das, was da passiert, einen weniger berührt als wenn man dazu genötigt ist, bunte Zettel auszufüllen mit irgendwelchen Wünschen und die irgendwo hinzuhängen.
Dietrich: Kristian Fechtner, Professor für Praktische Theologie in Mainz. Über die Zusammenhänge von Scham und Glauben hat Kristian Fechtner ein interessantes Buch geschrieben: "Diskretes Christentum – Religion und Scham" heißt es, erschienen im Gütersloher Verlagshaus. Weitere Angaben zum Buch finden Sie auf unserer Homepage: deutschlandradiokultur.de – Religionen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Christian Fechtner: Diskretes Christentum – Religion und Scham
Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten, 17,99 Euro