Christine Lehmann: "Allesfresser"

Gebratene Plazenta mit Pilzen

Proteste der Tierschutzorganisation PETA in London anlässlich des des internationalen Tags des Veganismus.
Tierschützer protestieren in London gegen Fleischkonsum. © Imago / Landmark media
Von Thomas Wörtche · 11.05.2016
Detektivin Lisa Nerz ermittelt im Zirkel radikaler und gemäßigter Veganer und Tierschützer: Ein TV-Koch wurde getötet, portioniert und in Supermarkt-Kühltruhen verteilt. Christine Lehmanns "Allesfresser" ist ein politischer Krimi zum Thema Tier-Ethik.
Ein prominenter Fernsehkoch wird entführt, gemästet, geschlachtet und fein säuberlich portioniert in die Fleischkühltruhen von Supermärkten verteilt. In einem Blog tauchen Texte auf, die man als Bekennerschreiben verstehen kann und die krause Theorien über das Tiere- und Menschenschlachten mit allerlei Zivilisations- und Gesellschaftskritik verbinden. Ein Fall also, der genau das richtige Maß an Bizarrie für die Stuttgarter Privatdetektivin und Journalistin Lisa Nerz bietet.
In ihrem nunmehr zwölften Fall lässt Christine Lehmann ihre Heldin tief eintauchen in die Welt der militanten und nicht militanten Tierschütze, in Kreise von radikalen Veganern und gemäßigten Vegetariern, in Land-WGs und Zirkel "ökologischer Kapitalismuskritiker".
Lisa Nerz muss sich anpassen und sich dabei selbst ziemlich heftig hinterfragen. Sind ihre Klamotten ökologisch korrekt und angemessen nachhaltig? Ist ihre eigene Ernährung verantwortbar? Sind Menschen, die prinzipientreu zu leben versuchen, allesamt Spinner? Wo schlägt Prinzipientreue und dezidierte Ethik um in Terror und Horror? Mit anderen Worten: Gibt es ein richtiges Leben? Und sei es im falschen?

Filetierter Fernsehkoch im Kühlschrank

Lisa Nerz hangelt sich im Laufe ihrer Suche nach dem Mörder durch die verschiedenen Diskurse, die in unserem Alltag präsent sind. Christine Lehmann vermeidet dabei, ihre Geschichte von vornherein als Satire anzulegen und sich über die verschiedenen Positionen - vom zeitgeistigem Luxus-Vegetarismus bis zum tödlichen Ernst der Tierschützer - lustig zu machen.
Auch wenn sie durchaus die Komik mancher Standpunkte sieht: So gibt es ziemlich gruslig-groteske Auseinandersetzungen über den Sinn und Unsinn des Verzehrs von Plazenta (gebraten, mit Pilzen), über das Töten von Insekten und Kriechtieren, über Delikatessen wie Entenbrust und Kannibalismus im Allgemeinen und Besonderen.
Mit ihrem Bald-Gatten, dem Staatsanwalt Dr. Richard Weber, und ihrem von Cervantes ausgeliehenen Hund Cipión, ausgestattet mit einem skeptisch-dialektischen Blick, pflügt sie durch die verschiedenen Szenen und Milieus, nicht ohne sich hin und wieder in Lebensgefahr zu begeben.
Und genau das ist im Grunde erstaunlich, denn der Roman beschreibt zwar, als narratives Skelett sozusagen, die Suche nach dem Täter, lässt auch viele Menschen agieren, die allesamt für Positionen hinsichtlich der Tier-Ethik stehen, lebt aber letztendlich von den Diskursen und Diskussionen um das Thema der "richtigen Lebensführung".

Diskurs über richtige Lebensführung verpackt in einen Krimi

"Allesfresser" ist, so gesehen, eher ein Diskurs-Roman als ein Action-Roman oder ein psychologischer Roman. Denn die Diskurse, die verhandelt werden, sind keine abstrakten, direkt auf die Handlung und auf die Figuren hin entworfenen Positionen, sondern solche, die im nicht-fiktionalen Bereich unseres Alltags eine große Rolle spielen und jederzeit off- und online zur Verfügung stehen.
"Allesfresser" gehört also zu der Gruppe "politischer Kriminalromane", in denen sich fiktionale und nicht-fiktionale Narrative durchmischen und dadurch neu positioniert werden. Man könnte "Allesfresser" mit Fug und Recht als "Roman der Einmischung" bezeichnen, weil er die richtigen Fragen stellt, ohne dass er die Antworten zu kennen behauptet; auch wenn die Konvention, der zufolge am Ende ein Täter gefunden sein muss, aus Gründen der breiten Kommunizierbarkeit erfüllt wird.
Eine Art Quadratur des Kreises, die Christine Lehmann höchst unterhaltsam und vergnüglich gelungen ist.

Christine Lehmann: "Allesfresser"
Ariadne, Hamburg 2016
252 Seiten, 12 Euro

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