"Christian Lindner kann das"

Jorgo Chatzimarkakis im Gespräch mit Ulrich Ziegler und Ernst Rommeney · 02.04.2011
Die FDP ist in der größten Krise seit langem. Der Erfolg bei der letzten Bundestagswahl ist längst vergessen, bei den letzten Landtagswahlen sind die Liberalen böse abgestürzt. Nun wollen sie einen personellen Neuanfang wagen.
Deutschlandradio Kultur: Ist die FDP noch zu retten? Das fragen wir – Ulrich Ziegler und Ernst Rommeney – heute Jorgo Chatzimarkakis, liberaler Abgeordneter im Europäischen Parlament und zugleich Mitglied im Bundesvorstand der FDP. Herr Chatzimarkakis, Guido Westerwelle wird wohl am Montag den Parteivorsitz abgeben oder es zumindest ankündigen. Ist das dann der große Befreiungsschlag, auf den die Liberalen gewartet haben?

Jorgo Chatzimarkakis: Ja. Die Liberalen sind in einer schwierigen Situation. Es brodelt an der Basis. Es gibt sehr laute Rufe in allen Landesverbänden, dass wir einen Neuanfang brauchen. Auch wenn er nicht sofort zurücktritt, sondern nur ankündigt, dass er sein Amt nicht mehr fortsetzen wird, so öffnet das doch den Weg für eine neue Ausrichtung der Partei, für eine Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit, die eben in der letzten Zeit verloren wurde.

Deutschlandradio Kultur: Was soll die ganze Panik eigentlich? Sie sind mit Guido Westerwelle groß geworden. Er hat sie zu beinahe 15 % bei den letzten Bundestagswahlen geführt – nach langer Zeit der Opposition. Und nun, wo es bergab geht, und es geht ja leicht mal bei einer Partei wie der Ihren bergab, der Undank – warum?

Jorgo Chatzimarkakis: Ich glaube, die Partei hat gemischte Gefühle. Sie ist natürlich Guido Westerwelle dankbar für diese Riesenerfolge – historisch einmalig, fast 15 %, wie Sie sagten. Aber am Tage X, als die Regierungsverantwortung übernommen wurde, da begann plötzlich das andere Bild des Guido Westerwelle sich auszubreiten.

Er war ein hervorragender Wahlkämpfer. Er war ein extrem guter Oppositionspolitiker. Ich halte ihn auch für einen sehr guten Außenminister im Moment. Das Problem ist, dass er bei der Verhandlung, den Koalitionsverhandlungen und der ständigen Verhandlung mit der Unionspartei, mit den Unionsparteien leider eben nicht mehr das Glück hatte, auch nicht den Schneid und auch nicht den Erfolg, liberale Politik durchzusetzen. Und das hat viele Mitglieder dann doch zermürbt.

Denn es ist ja nicht so, dass wir jetzt Landtagswahlen verloren haben und jetzt deswegen ihn loswerden wollen. Das ist ein längerer Prozess, der begonnen hat mit der Regierungsübernahme, mit dem Zusehen, dass selbst die Kernforderung, die wir erhoben haben, nach Steuersenkungen in fast keinster Weise erfüllt wurde. Das ist schwierig zu ertragen. Zum Schluss kamen dann einige Pirouetten und sehr kurzfristige Änderungen in der Politik dazu – ob das das Atomthema war nach Fukushima oder das Thema Libyen, das hat die Leute verunsichert.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem ist es doch komisch. Vor wenigen Wochen haben Sie noch gesagt, wir brauchen überhaupt keine Personaldebatte in der FDP, wir brauchen eine inhaltliche Debatte. Jetzt plötzlich springen alle auf den Zug auf und sagen, Guido muss weg und dann wird’s irgendwie besser.

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, die inhaltliche Debatte steht im Vordergrund. Aber es ist in der Politik tatsächlich so, dass Sie vielfach Inhalte nur durch Köpfe und über Köpfe transportieren können. Guido Westerwelle hat selber als Generalsekretär den Prozess des letzten Grundsatzprogramms ja auch gesteuert. Das waren die so genannten Wiesbadener Grundsätze. Aber vieles davon haben wir einfach nicht beherzigt. Wir sind auch in der Wahrnehmung auf ein Thema nun mal beschränkt wahrgenommen worden. Das ist das große Problem. Guido Westerwelle hat es eben nicht vermocht als Person, über dieses Thema weitere Dinge zu kommunizieren.

Hinzu kommt seine Reaktion auf die öffentlichen Gegenentwürfe. Allein der Satz "ihr kauft mir den Schneid nicht ab" war etwas, wo er sich selber sehr stark mit geschadet hat. Er hat damit ja die gesamte Öffentlichkeit aufgerufen, gegen ihn anzutreten. Und wir spüren das in der Partei. Man muss das einfach sagen. In der Partei spürt man, dass man für den eigenen Vorsitzenden sozusagen in Mithaftung genommen wird, dass man einen – ich sage es so offen, wie es ist – "Igitt-Faktor" hat. Und das tut den Menschen weh.

Wir haben in Baden-Württemberg zuletzt gesehen, dass es sehr schwer war, die Menschen dazu zu bewegen, zum Wahlkampfstand zu gehen, weil sie sich eben nicht beschimpfen lassen wollten, weil sie mehr Gradlinigkeit in der Politik verlangen. Und es ist für uns alle schwierig, denn wir mögen Guido Westerwelle. Wir sehen aber auch, wie die Reaktion der Bürger auf den Parteipolitiker Westerwelle sind, nicht so sehr auf den Außenminister.

Deutschlandradio Kultur: Ein ganz kleiner Einschub: Wären die Liberalen nicht mit 5,3, sondern mit 6,3 % in Baden-Württemberg in den Landtag gezogen, hätte es Schwarz-Gelb noch gegeben. Sähe die Welt dann heute wieder anders aus und keiner würde diskutieren?

Jorgo Chatzimarkakis: Ich bin nicht so sicher. Ich glaube, dass wir trotz alledem ein anderes Stammland ja auch haben – Rheinland-Pfalz –, wo wir zwar auch schon mal draußen waren, aber doch immer sehr stark vertreten waren. Das geht an den Leuten nicht ohne Folgen vorüber. Die sind sauer. Die sind wütend. Die Bundespolitik hat vielen Landespolitikern ins Kontor geschossen. Und was ich hier wiedergebe, ist eine Stimmung, die sich in der Partei schon nach der Regelungsverantwortung schon über Monate ausgebreitet hat.

Es hat lange gedauert, bis wir erkannt haben, dass die Union uns nicht liebt. Wir hatten gedacht nach der Wahl, die Union ist ein Wunschpartner, das ist eine Liebesehe, und stellten dann zu spät fest, dass wir eigentlich nur bekämpft wurden. Und auch da hat Guido Westerwelle als Chef sehr spät umgeschwenkt. Und hier sind die Probleme, die wir dann heute geerbt haben, nämlich dass man keine klare liberale Linie mehr in der Regierungspolitik erkennt.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem verstehe ich Ihr Problem noch nicht. Sie haben mit viel Begeisterung zum Beispiel ein Steuerkonzept erarbeitet. Dann haben Sie es in der Koalition nicht umsetzen können. Okay. Aber dann geht man in die Opposition. Was wollen Sie noch viel diskutieren über Themen? Sie haben doch Ihr Thema gefunden und diskutiert. Da ist doch nichts mehr dran zu rütteln.

Jorgo Chatzimarkakis: Die FDP steht ja nicht nur für das Steuersenkungsthema. Sie hat sich darauf reduziert wahrnehmen lassen. Und das ist das Problem. Da hätte auch Guido Westerwelle gegensteuern müssen. Da hätten auch andere in der Führungsspitze gegensteuern müssen. Aber sie ist nun mal jetzt so wahrgenommen. Und deswegen müssen wir die Themenpalette, die wir ja im Grundsatz haben, auch wieder erweitert darstellen. Und das geht nur über ein Personalangebot. Wie gesagt, Themen transportieren sich über Köpfe.

Deutschlandradio Kultur: Und wer soll's denn jetzt machen?

Jorgo Chatzimarkakis: Also, es gibt natürlich verschiedene, die die breite Palette des liberalen Angebots darstellen können. Da fällt mir Philipp Rösler ein, der sich schon öfter mit breiteren programmatischen Ideen an die Öffentlichkeit gewandt hat. Da fällt mir natürlich Frau Leutheusser-Schnarrenberger ein, die einen hohen Respekt in der gesamten Bevölkerung genießt – auch aufgrund der Historie, dass sie mal zurückgetreten ist aufgrund von Grundsätzen als Justizministerin. Da fällt mir zuallererst aber Christian Lindner ein.

Deutschlandradio Kultur: Das ist der Mann, der die acht Atomkraftwerke dauerhaft abschalten will.

Jorgo Chatzimarkakis: Das ist der Mann, der tatsächlich sehr mutig ist. Er ist der Einzige, der innerhalb dieser Koalition mal die Koalitionsfrage gestellt hat als Generalsekretär – mit 32 Jahren zugegebenermaßen sehr jung, aber sehr wortgewaltig, wer ihn kennt, und sehr liberal. Er deckt wirklich das breite Spektrum ab. Auch wenn er jung ist, ich sehe in ihm denjenigen, der die Partei wirklich zu einem Neuanfang führen kann. Man muss es jetzt in neue Hände legen.

Deutschlandradio Kultur: Aber mit Verlaub: All die Jungen, wie schon Guido Westerwelle, der nicht mehr sehr jung ist, haben sich und unterscheiden sich sehr deutlich von ihren Altvorderen. Es gibt doch derzeit gar keinen Namen, der wirklich in ganzer Breite als Liberaler dasteht und wahrgenommen wird – ein Name, der Programm ist.

Jorgo Chatzimarkakis: Ja. Das ist das Problem. Und deswegen muss man genau jetzt hingehen und vielleicht auch mit einem Aha-Effekt, Überraschungseffekt diesen Namen den Bürgern bekannt machen.

Christian Lindner kann das. Der Mann hat nicht nur Philosophie studiert, sondern der kann philosophische Grundkenntnisse auch runterbrechen auf Tagesaktualität. Das wird der Mann sein, der das liberale Projekt auf seine nächste Stufe heben wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber was kann er ausrichten? Das ist ja die entscheidende Frage. Wenn ich Sie richtig verstehe, dass Sie sich bisher nicht durchsetzen konnten in der Koalition, dann würden Sie ja von ihm verlangen, verhandle dann am nächsten Tag nach deiner Wahl einen neuen Koalitionsvertrag. Wird das gehen?

Jorgo Chatzimarkakis: Zunächst einmal sind wir jetzt in einer Phase, wo ja die gesamte schwarz-gelbe Regierung in einem schwierigen Fahrwasser ist, um es mal so zu sagen, wo man sich den Koalitionsvertrag noch mal anschauen sollte. Der ist gut, aber der ist ungleichgewichtig interpretiert. Christian Lindner wäre am ehesten berufen meines Erachtens, von Seiten der FDP diesen Koalitionsvertrag jetzt noch mal durchzulesen und einige liberale Dinge, die dort drinstehen, neu anzusprechen, neu auf die Agenda zu bringen. Anders geht’s nicht.

Und er hat es schon getan. Er hat mit seinem Vorstoß, acht Atomkraftwerke dauerhaft abzuschalten, noch mal diese Idee erweitert, dass man gegen den Strich bürstet – und offenbar ja mit Erfolg. Die Unionsparteien scheinen ja dieser Idee zu folgen. Nicht die Länder-FDP folgt dem automatisch. Ich bin auch noch energiepolitischer Sprecher meiner Partei im Europaparlament. Ich habe ihn sofort unterstützt in dieser Frage – aus Überzeugung. Es ist in der Demokratie so, wenn sich die Perzeption der Dinge ändert, dann muss sich auch die Politik ändern. Man kann nicht gegen seine Bevölkerung dauerhaft Politik machen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die Liberalen werden jetzt deutlich grüner. Oder man könnte auch umgekehrt mal fragen: Wenn dieser Schwenk tatsächlich da ist, dann kann man ja eigentlich auch das Original nehmen, sprich, die Grünen. Das haben wir ja in Baden-Württemberg gesehen. Man braucht die Liberalen an der Stelle eigentlich überhaupt nicht.

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, es stimmt, dass die FDP sich in den letzten Jahren, vielleicht Jahrzehnten zu wenig um das Thema Nachhaltigkeit selbst gekümmert hat. Aber der deutliche Unterschied ist, dass man Nachhaltigkeit heute nur verwirklichen kann mit High-tech. Nachhaltigkeit kann man nur verwirklichen, indem man große Projekte dann eben fährt.

Das heißt, wenn wir die acht abgestellten Atomkraftwerke kompensieren wollen, dann müssen wir die Energie irgendwo herkriegen. Dafür brauchen wir Erneuerbare mit ganz viel Speicherkapazität, weil das nun mal die technische Gegebenheit ist. Da wird es sehr viel Bürgerproteste geben. Und da ist der Unterschied. Die Grünen würden diese Bürgerproteste dann mit kanalisieren und würden sich drauf setzen. Und die FDP kann das nicht machen. Die FDP muss jetzt ganz konsequent den Weg in die erneuerbaren Energien gehen, aber mit Hochgeschwindigkeitstrassen für Strom, für neuen grünen Strom, Ökostrom, mit großen Speichervorhaben, wo so manche Gemeinde dagegen aufbegehren wird. Aber es geht nicht das eine oder das andere.

Dann kommt noch ein großes Thema dazu, die Frage, wie wir jetzt bei abgeschalteten Atomkraftwerken vielleicht kurzfristig auch auf das eine oder andere CO2-Ziel verzichten müssen. Wir müssen es eventuell aussetzen. Das ist eine Debatte, die kommt. Wir werden Gaskraftwerke haben müssen. Wir werden vielleicht sogar Kohlekraftwerke haben müssen mit einem höheren CO2-Outpupt. Da werden die Grünen eine andere Position haben als die FDP.

Also, die neue FDP ist nicht eine grün angepinselte liberale Partei, sondern sie bleibt eine der Freiheit verpflichtete und vor allem der Vernunft verpflichtete Partei.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem würde ich sagen – wir fragen uns ja, ist die FDP noch zu retten: So ist sie, indem sie grüner wird, wahrscheinlich nicht zu retten. Denn die Grünen können es ja derzeit besser, wie wir in Baden-Württemberg sehen. Die kommen ja auf eine ziemlich hohe Prozentzahl. Und sie wollen dieselben Themen mit denselben Antworten.

Jorgo Chatzimarkakis: Nein, es sind andere Antworten. Es sind völlig andere Antworten. Nehmen sie das Beispiel Biosprit.

Deutschlandradio Kultur: Da würden die Grünen sagen, ja, wir müssen den CO2-Ausstoß bei Autos auch in Deutschland deutlich reduzieren. Machen Sie da mit?

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, wir machen da mit beim CO2-Ausstoß, den zu reduzieren. Allerdings Biosprit, da fahren wir eine ganz konsequente Linie. Das ist gut. Biosprit ist etwas, was CO2-neutral ist. Und Biosprit wird unsere Abhängigkeit von Gas und von Öl senken und wird unsere Industrie auch voranbringen, wenn wir nämlich auf die zweite und dritte Generation von Biosprit kommen – grüne Gentechnik. Wir werden irgendwann nicht drum herumkommen bei wachsender Weltbevölkerung, uns mit dem Thema grüne Gentechnik auseinanderzusetzen, wenn wir zum Beispiel Ernährung sichern wollen, aber eben auch Biosprit, Bioethanol zukünftig anbauen wollen.
Also: Bewahrung der Nachhaltigkeit durch High-tech und nicht gegen High-tech. Das ist der FDP-Weg. Der ist anders als der der Grünen.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie Ihre Seite erläutert. Die andere Seite wäre ja zu sagen, warum das Bürgertum derzeit eher zu den Grünen neigt und nicht zur FDP.

Jorgo Chatzimarkakis: Da gibt’s eine ganz klare Antwort: Verwirrung. Die FDP hat keine klaren Antworten gegeben. Die FDP hat zu stark ein Thema gefahren und hat auf die anderen Fragen, auf die Komplexität der anderen Fragen keine Antworten gehabt. Sie muss sie jetzt finden, zumindest muss sie sie suchen. Und wenn dann keine klare Antwort kommt, wie sie von Schwarz-Gelb erwartet worden wäre, von diesem Wunschprojekt, und da kam keine klare Antwort, dann geht man ins Metaphysische. Und da sind die Grünen einfach besser.

Deutschlandradio Kultur: Da muss ich mal die Position der Grünen einnehmen. Winfried Kretschmann würde Ihnen sicherlich widersprechen, dass er die großen Visionen hat. Er sagt, "wir müssen das Realistische machen und sehr vorsichtig mit dem Porzellan, das da uns übergeben wurde, umgehen".

Sie haben mal eine Vision gehabt, wo Sie gesagt haben, wir müssten eigentlich das deutsche Bürgertum wiedervereinigen, und dachten da an die Liberalen und an die Grünen. Wenn wir nach Baden-Württemberg beispielsweise schauen, dann hat ja Ihr Traum mittlerweile stattgefunden. Es hat ja genau das stattgefunden, was Sie sich vielleicht erträumt haben, wenngleich ein wenig anders – alle sind jetzt mittlerweile bei den Grünen. Dann braucht man doch die Liberalen gar nicht mehr bei solchen Realo-Grünen, wie wir sie in Baden-Württemberg haben.

Jorgo Chatzimarkakis: Das sind einige Realo-Grüne, in der Tat. Herr Kretschmann ist jemand, den würde ich mir auch für die FDP wünschen. Aber er vertritt natürlich nicht das breite Spektrum, was die Grünen überall haben. Ich glaube schon, dass es letztendlich zu einer Zusammenkunft von Grünen und Liberalen in der Wählerschaft kommen wird. Und Sie haben absolut Recht. In Baden-Württemberg erleben wir das.

Aber die große Unterscheidung wird in der Tat sein: Wie gehen wir mit ethischen Fragen, die technischer Natur sind, zum Beispiel Gentechnik, letzten Endes um? Da wird es wohl so sein, dass irgendwann die Grünen da auch ein paar Liberale brauchen, um große Zukunftsfragen zu beantworten. Also, vor Herrn Kretschmann habe ich hohen Respekt. Und ich wünschte, die FDP hätte so ein paar Kretschmanns. Ich wünschte aber auch den Grünen, dass sie noch mehr Kretschmanns hätte, denn nicht alle bei den Grünen sind so.

Deutschlandradio Kultur: Morgen wollen Sie gemeinsam mit anderen Bundes- und Europapolitikern einen so genannten Dahrendorf-Kreis gründen. Warum noch einen Parteiflügel?

Jorgo Chatzimarkakis: Es geht nicht darum, einen weiteren Parteiflügel zu gründen, sondern es geht darum – wieder Mal – eine inhaltliche Erneuerung in der FDP voranzubringen und sich dabei auf die eigenen Wurzeln zu bekennen. Die inhaltliche Reduzierung war ein Fehler, war problematisch. Sie hat natürlich zu einem tollen Wahlergebnis geführt, das dann aber auch Erwartungen geweckt hat.

Deswegen glaube ich, wir müssen an unsere Wurzeln zurück. Und der Dahrendorf-Kreis bezieht sich und beruft sich eindeutig auf Lord Ralph Dahrendorf, einen deutschen Soziologen, der lange in der FDP gewirkt hat, später bei den Liberal Democrats, also bei den Liberaldemokraten Großbritanniens, gewirkt hat.Und für ihn war der liberale Kompass eben nicht Steuersenkung, sondern für ihn war entscheidend, dass man ein Gleichgewicht findet zwischen Leistung und Solidarität.

Deutschlandradio Kultur: Also, irgendwie die alten Sozialliberalen treffen sich da wieder mit neuen, die dann perspektivisch entweder die Fusion mit den Grünen vorantreiben wollen oder mit der Sozialdemokratie, wenn die sich auch erneuert hat, zusammengehen möchte, damit es sozialer zugeht – aber nicht mehr mit der CDU?

Jorgo Chatzimarkakis: Also, es geht schon darum, die koalitionspolitischen Optionen auch zu erweitern und neu zu denken. Denken Sie an die Wahlen in Nordrhein-Westfalen, die da auf uns zukommen. Wenn man sich da wieder einkaserniert als FDP in das Lager...

Deutschlandradio Kultur: Sie reden von Neuwahlen oder wie?

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, ja. Neuwahlen in diesem Jahr werden wohl kommen in Nordrhein-Westfalen. Und wenn man da wieder auf Schwarz-Gelb hofft und baut und alle anderen Optionen sozusagen ausschlägt, dann wird man dort landen, wo einen der Bürger im Moment sieht, nämlich in der Ecke der Aussichtslosigkeit.

Ich glaube, man muss tatsächlich die Option erweitern. Es geht aber nicht um Fusion. Es geht einfach darum, wieder für die Menschen Orientierung zu bieten in der Politik. Das ist abhanden gekommen. Das ist übrigens auch bei den Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg abhanden gekommen. Wenn ein Grüner Ministerpräsident wird, der aber eigentlich recht konservative Positionen vertritt, wenn ein absoluter Pro-Atom-Ministerpräsident von einem Tag auf den anderen aussteigt und quasi frühere Ideale über Bord wirft, wenn die Liberalen keine klare inhaltliche Analyse mehr bringen können, dann sind die Leute verwirrt.

Und der Dahrendorf-Kreis will eins: Er will über Inhalte wieder Werte und Orientierung bieten. Und die Ersten übrigens, die gefragt haben, ob sie den Text veröffentlichen dürfen, das sind die Reformer in der SPD. Und wer weiß, vielleicht ist das Parteiensystem, wie wir es jetzt kennen, auch obsolet und kann gar nicht mehr die Fragen, die sich heute stellen, beantworten.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben ja für Ihr liberales Konzept grundsätzlich ein Problem, nämlich den Bürger. Ist der wirklich so verantwortungsvoll, so selbstbewusst, dass er Ihre Politik mittragen kann? Wir sehen das am Internet, wo man auf der einen Seite will, dass die Daten geschützt sind, dass der Staat sich nicht einmischt und die eigenen Daten auch noch prüfen will zur Strafverfolgung. Andererseits ist man sehr freigiebig mit den eigenen Daten.

Jorgo Chatzimarkakis: Also, zum liberalen Denken und vielleicht auch zum Dahrendorfschen Denken gehört auch der Diskurs, das ständige Nachdenken – was ist richtig, was ist falsch? Es gibt keine klaren Botschaften mehr, aber es gibt Werte. Und aufbauend auf diesen Werten, muss man eben Debatten führen. Und ich bin nicht so sicher, ob wir das tun. Wir erleben im Moment zwar eine Zickzack-Politik aus Berlin, aber wir erleben nicht mehr eine werteorientierte Politik.
Das heißt: Bei dieser großen Frage Freiheit im Internet, Freiheit im Netz auf der einen Seite, aber eben auch Personenschutz auf der anderen Seite, da gibt es gewisse Dinge, rote Linien, die man ziehen muss. Wir sind da leider noch nicht. Wir haben diese roten Linien nicht gezogen. Aber der Dahrendorf-Kreis versucht gerade bei diesem Thema neue Wege zu gehen, auch neue Wege der Partizipation. Wie kann man zum Beispiel Internet nutzen, um bei der Aufstellung von Kandidaten von Parteien auch Bürger, die nicht in der Partei organisiert sind, einzubeziehen, mit partizipieren zu lassen? Das sind Fragen, die sich neu stellen und die wir neu diskutieren und dann auch beantworten wollen.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie eine Idee, wie das Profil am Schluss aussehen könnte? Bei den Grünen ist es relativ einfach im Moment. Die sagen, wir sind ökologisch, nachhaltig und wir sind dicht bei den Bürgern – siehe Stuttgart 21. Wenn Sie – so lange können Sie die Diskussion nicht führen, wir sehen ja, wie schlecht es der FDP im Moment geht – also relativ schnell sagen wollen, wir FDP, wir stehen für 1, 2, 3 – sagen Sie das schnell, haben Sie das im Kopf?

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, für einen ganzheitlich liberalen Ansatz und für Vernunft.

Deutschlandradio Kultur: Ganzheitlich liberaler Ansatz, weitaus mehr als das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben?

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, viel breiter, aber eben auch immer auf der Basis von Vernunft, Vernunft, Vernunft und nicht Hysterie.

Deutschlandradio Kultur: Das haben die anderen Parteien auch, Vernunft.

Jorgo Chatzimarkakis: Nein, nicht alle. Ich glaube, der Vernunftgedanke wird unterschätzt. In der FDP sind heute noch sehr, sehr viele Mitglieder, die sind nicht im eigentlichen Sinne liberal oder marktwirtschaftlich orientiert, aber vernunftorientiert. Die sehen in der FDP die Kraft, die so ein bisschen die Mitte verkörpert. Und das ist das, was die Grünen sich noch erkämpfen müssen. Sie werden zwar immer in der Mitte geortet, aber wenn man mal auf eine Versammlung der Grünen geht an der Basis, wird man feststellen, da ist nicht überall Vernunft, sondern da ist ganz klare Ideologie. Deswegen sagte ich, dass die FDP die nachhaltige Orientierung, den ganzheitlichen Ansatz vom Ende her denkend mit Vernunft versehen muss.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind zwar im Saarland und kommen aus dem Saarland, aber Sie sind Europaparlamentarier. Wie ist das eigentlich mit einer liberalen Außenpolitik? Können Sie Ihren Kollegen aus Frankreich, aus Großbritannien oder anderen Ländern erläutern, was liberale Außenpolitik ist aus deutscher Sicht, wenn man das Abstimmungsverhalten der schwarz-gelben Bundesregierung und auch des Bundesaußenministers betrachtet?

Jorgo Chatzimarkakis: Leider ist das nicht erklärbar. Für uns ist völlig klar, ob das jetzt die Liberalen im Europaparlament sind, aber auch viele Liberale in Deutschland, dass hier ein massiver Fehler gemacht wurde. Da ranken sich viele Rätsel darum, warum Herr Westerwelle so abgestimmt hat, ob das mit der Kanzlerin abgesprochen war oder nicht. Ich will das alles nicht beurteilen.
Was ich aber beurteilen will, ist, dass es inhaltlich absolut falsch ist. Sie können nicht für Freiheitsrechte eintreten und dann diejenigen, die nach Freiheit rufen, die sozusagen einen Jahrtausende alten Hierarchiestaat überwinden wollen, einfach links liegen lassen, einfach hilflos lassen. Und deswegen war diese Abstimmung absolut falsch. Sie bleibt auch falsch. Und ich glaube auch, dass Herr Westerwelle am Wahlergebnis gemerkt hat, dass das viele Bürger ähnlich sehen.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist noch nachvollziehbar. Wenn Sie aber dann mit Ihrer nächsten Forderung kommen, eine Konsequenz aus den Demokratiebewegungen in Nordafrika müsse sein, dass Europa seine Tore öffnet und seine Asylpolitik ändert, dann hauen Sie doch voll gegen den Mainstream, auch gegen den konservativen Mainstream in Europa und auch in diesem Lande.

Jorgo Chatzimarkakis: Da gibt es gar nicht so einen Mainstream. Es gibt auch viele konservative Stimmen aus der Wirtschaft, die sagen: Junge Menschen aus Tunesien, aus Libyen, vor allem aus Tunesien, das sind die, die wir hier brauchen. Die sind hungrig, die sind halb gebildet, aber die sind fit für den Arbeitsmarkt. Also, es gibt da auch ganz andere Stimmen.

Viel wichtiger ist aber, dass wir – nehmen wir mal das Beispiel Energie – jetzt Lebenschancen bieten diesen sich befreienden Nationen zum Beispiel durch den Solargürtel. Die haben Sonne zu bieten. Die können Strom aus Sonne uns bieten, wenn wir die notwendige Infrastruktur da hinlegen. Das sind ein paar Kabel, die wir durchs Mittelmeer ziehen müssen. Das kostet Geld. Das kostet nicht ganz so viel Zeit, wie man denkt. Aber hier würden wir diesen Gesellschaften die Chance bieten, produktiv zu sein und sozusagen uns was zu bieten, was wir ihnen abkaufen können. Das ist jetzt ganz entscheidend. Und das würde auch viele Menschen dort halten, wenn wir ihnen dort eine Perspektive geben.

Wir brauchen diesen Strom, wenn wir jetzt in der Atompolitik umschwenken. Und wir brauchen aber auch das Ziel und eine Chance, eine Perspektive für die jungen Menschen dort in Tunesien, Ägypten, demnächst hoffentlich Libyen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir innerhalb Europas bleiben: Brauchen wir auch einen erweiterten EU-Rettungsfonds, damit nicht Länder wie Griechenland oder beispielsweise Portugal einfach wegdriften, möglicherweise irgendwie in die Insolvenz gehen müssten? Da sind Ihre Parteifreunde in Berlin auch ziemlich unschlüssig oder haben Sie wahrscheinlich auch ziemlich verärgert mit ihrem Beschluss, das sehr restriktiv zu handhaben.

Jorgo Chatzimarkakis: Ja, hier gibt es einen starken Konflikt zwischen den Liberalen in Brüssel und den Liberalen in Berlin, auch den FDPlern in Brüssel und den FDPlern in Berlin, nämlich dass wir den Euro als ganzheitliches Projekt sehen. Es ärgert uns schon, dass in Deutschland zu wenig darüber gesprochen wird, dass ca. eine Billion, etwas über eine Billion Euro zusätzlich in Deutschland durch die deutsche Wirtschaft über den Euro verdient wurde. Diese Gewinnchancen, die uns der Euro bietet, machen es allemal nötig, dass man diesen Euro bewahrt. Und da muss man schon auch mal den Vertrag ergänzen, so wie das jetzt getan wurde. Ja, ein Rettungsfonds, ein europäischer Sicherungsmechanismus war notwendig. Und ich bin froh, dass er kommt. Und ich ärgere mich über die Debatte, wie sie in Deutschland läuft. Wir brauchen deutsche Tugenden nach wie vor, aber wir können nicht mehr mit dem kleinen deutschen Maß messen. Wir müssen mit europäischer Elle messen, weil Deutschland der Hauptspieler in Europa ist und europäisch denken muss.

Deutschlandradio Kultur: Also, so vernünftig ist die FDP dann doch nicht, auch nicht mit dem Argument, wir würden künftig die Schulden unserer europäischen Nachbarn bezahlen.

Jorgo Chatzimarkakis: Machen wir uns nichts vor. In der FDP gibt es einen Richtungskampf. Der Richtungskampf wird jetzt durch die Nachfolgedebatte Westerwelle völlig entbrennen. Wir haben ihn als Europäer am Beispiel Euro auch schon geführt. Und dieser Kampf ist offen. In der Sache haben sich die Europäer durchgesetzt. Mit Populismus kommen wir da nicht weiter. Das geht ganz klar an die Adresse einiger Berliner Kollegen, die ja auch mit populistischen Sprüchen letztendlich die Wahlen nicht gedreht haben.
Nein, man kommt hier nur weiter mit einem ganzheitlichen Ansatz. Das heißt, vom Ende her denken. Wer Länder wie Portugal, Irland rausschmeißt, der verliert eben auch Marktchancen und der verliert sehr viel Darlehen, die er jetzt gegeben hat. Die sind auf Nimmerwiedersehen weg.

Deutschlandradio Kultur: Ist trotz all dieser Bedenken die FDP für Sie nach wie vor die richtige Partei?

Jorgo Chatzimarkakis: Wenn im Richtungskampf, der jetzt kommen wird, sich weite Teile des Dahrendorfschen Denkens durchsetzen, auf jeden Fall ja.

Deutschlandradio Kultur: Unsere Frage war: Ist die FDP noch zu retten? Wir danken Ihnen, Jorgo Chatzimarkakis, für Ihre Antwort.
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