Christian Kracht: "Die Toten"

Großes Kino zwischen Buchdeckeln

Von Patrick Wellinski · 07.09.2016
"Das ist eine Geistergeschichte", sagt unser Kritiker über den neuen Roman von Christian Kracht. Er handelt – eingebettet ins Filmmilieu der 1930er-Jahre – von zwei Männern, deren Leben nicht in Gang kommt. Dabei beeindruckt vor allem Krachts experimentelle Erzählweise.
Als Charlie Chaplin in seinem vorletzten Film "Monsieur Verdoux" einen Witwenmörder spielte, war der Aufschrei groß. Wie konnte er, der doch über Jahrzehnte den sympathischen Tramp gab, das unschuldige Symbol der Unterdrückung der Armen und Gescheiterten, - wie konnte er jetzt einen gewissenlosen Serienkiller verkörpern? Der Widerstand gegen diese Vorstellung war auch deshalb so groß, weil Chaplin der erste Star des Kinos war und damit der erste Mensch, der für seine Arbeit weltweit erkannt wurde.
Auch in Japan. Mehr als zehn Mal war Chaplin in den 1930er-Jahren im Kaiserreich. Und genau diese Zeit ist der stille, zeitgeschichtliche Rahmen in Christian Krachts neuem Roman "Die Toten".

Chaplin als Lichtgestalt verschattet die Hauptfiguren

Chaplin als Figur spielt dabei keine unwesentliche Rolle und auch seine mörderische Ader, die für Kracht allerdings nichts Schockierendes hat. Ganz im Gegenteil: Sie erscheint dem Autor sehr natürlich und plausibel. Chaplin ist die große Lichtgestalt, die aus dem Hintergrund ihre Schatten auf die beiden Hauptfiguren des Romans wirft.
Auf den Schweizer Regisseur Emil Nägeli, der durch seinen poetischen Kunstfilm "Die Windmühle" Weltruhm erlangt hat. Jeder kennt und verehrt den Schweizer als neuen Fritz Lang. Er bekommt Angebote aus Hollywood, Skandinavien und Frankreich, aber auch aus Deutschland - von der UFA.
Voller Zweifel und Depressionen macht er sich auf den Weg nach Berlin. Dort lockt das Geld. Aber Nägelis Ängste und Neurosen hemmen ihn. Der Tod des Vaters liegt wie ein Schatten über seinem kreativen Wirken und er vermisst seine Freundin, die in Japan weilt. In dieser Situation bekommt er den Auftrag der UFA einen Horrorfilm zu drehen. Am besten mit Heinz Rühmann - in Japan.
Auf der anderen Seite ist da Masahiko Amakasu, zuständig für die filmpolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Japan. Eine stille, leicht gestrige Figur, die sich zu keiner eigenen Position durchringen kann. Ein Leben, das keine Ziele mehr kennt.
Im Roman kutschiert er Charlie Chaplin durch die Gegend. Die Hoffnung auf Anerkennung und Respekt wird ihm ständig verwehrt. Nägeli und Amakasu sind Brüder im Geiste, auch wenn sie sich erst sehr spät und sehr schicksalhaft begegnen werden.

Nebensätze mäandern wie ein Kamerazoom

Sprachlich schließt Kracht an seinen letzten, umstrittenen Roman "Imperium" an. Unverkennbar sind die langen mäandernden deskriptiven Nebensätze, die es schaffen, aus einem kleinen detaillierten Close-Up, dem Kamerazoom gleich, langsam das ganze Gefühlsumfeld einer Figur zu erfassen. Die Konstruktion von "Die Toten" ist allerdings innovativer. Der Roman ist ein erzählerisches Experiment. Die Struktur hat Kracht dem japanischen No-Theater entliehen. Deshalb ist sein Buch in drei dramatische Teile - jo-ja-kiu - gegliedert. Das hat einen Einfluss auf Länge und Tempo der Erzählung. Langsam, schlurfend der erste Teil. Die Sprünge zwischen Japan und Nägelis Deutschlandreise werden durchbrochen von schmerzlich detailreichen Rückblenden über die entbehrungsreiche Kindheit der beiden Protagonisten. Im zweiten Teil nimmt der Plot Schwung auf. Es kommt zur Konfrontation - und dann, im letzten Teil (dem kiu), geht es kurz und explosiv zur Sache: Die Figuren werden möglichst schnell entsorgt.
Allein dieser Aufbau ist die Lektüre wert und unterschiedet Krachts Roman ohne Frage von allen diesjährigen Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt. Die Erzählung bleibt so voller Leerstellen und Lücken. Die werden aber - wie in einem japanischen Film von dem häufig erwähnten Yasujiro Ozu - gefüllt von einer poetischen Ahnung von Trauer und Angst, die die Handlung der Figuren bestimmt.

Von Siegfried Kracauer bis Fritz Lang

Der filmhistorische Kontext selbst ist aber kaum mehr als ein netter Hintergrund für diese Geschichte. Neben einigen merkwürdigen aber sicherlich beabsichtigten Anachronismen, verführt er Kracht phasenweise zum ungehemmten Name-Dropping. Ins Nichts laufende Episoden über die partysüchtigen Kritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner, die mit Fritz Lang im Speisewagen ins französische Exil reisen, wirken daher wie Episoden aus einer nie entstanden Novelle.
Es überzeugt der Kern: die beiden innerlich lustlosen Männerfiguren, die unter der Last des Genies zusammenbrechen. Die gescheiterten Existenzen sind in ihrer Haltung zur Kunst und zur Welt schon recht modern und wirken ihrer Zeit weit voraus. Doch im Zeitfenster des Kracht-Romans, den 1930er-Jahren, verlieren sie jeden repräsentativen Charakter. Sie sind Geister, erkennen sich gegenseitig in ihrer hoffnungslosen Trübsinnigkeit. Damit schließt Kracht den Kreis zum No-Theater. Nägeli und Maktasu lösen sich auf - als hätte es sie nie gegeben.

Christian Kracht: "Die Toten"
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
212 Seiten, 20 Euro

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