Christen in Grönland

Eine Pfarrgemeinde so groß wie Niedersachsen

Ansicht von Qaqortoq, dem größten Ort in Südgrönland
Fast die nördlichsten Christen der Welt: die Einwohner von Südgrönlands größter Stadt Qaqortoq © dpa / picture alliance / Daniel Gammert
Von Sven Weniger und Michael Marek · 08.02.2015
Fast alle der gut 55.000 Grönländer sind Christen. Weit verstreut leben sie auf der größten Insel der Welt. Da kann ein Pfarrbezirk schon mal die Größe Niedersachsens haben, und der Alltag der Pfarrerin besteht vor allem aus Reisen.
Sonntag, 10 Uhr morgens. In der protestantischen Kirche von Qaqortoq füllen sich langsam die Holzbänke. Von den Straßen des 3.500-Seelen-Ortes mit seinen bunten Holzhäusern am Julianehåb Fjord strömen die Menschen in das Gotteshaus: Alte, Junge, Familien mit Kindern, die meisten zu Fuß, einige fahren in Pickups und Geländewagen vor. Die wenigsten sehen europäisch aus, die meisten Gemeindemitglieder haben bronzenfarbene, gegerbte Haut, tintenschwarzes Haar, hohe Wangenknochen, mandelförmige Augen: die typischen Gesichtszüge der Inuit, der Urbevölkerung Grönlands.
Der Organist, ein spindeldürrer älterer Mann, bringt die Orgel zum Klingen. Die Unterhaltungen der Kirchgänger verstummen.
"Ich heiße Dorthe Petersen. Seit 2011 arbeite ich hier in Südgrönland als Pastorin für die evangelische Kirche. Ich bin für die vier Gemeinden Nanortalik, Qaqortoq, Narsaq und Paamiut zuständig. Eigentlich komme ich aus Nordgrönland, doch als sie hier nach einem Pastor suchten, habe ich den Job angenommen."
So schüchtern, wie sich die 44-jährige Pastorin mit dem mittellangen Haar im Gespräch gibt, so unbefangen klingt ihre helle, klare Stimme. Rund 150 Gläubige haben sich an diesem Sonntag versammelt. Andächtig lauschen sie der Geistlichen. Nur die kleinsten Kirchgänger quengeln ein wenig.
Mit dem gemieteten Boot zur Beerdigung
So viele Menschen auf einmal sieht man in der Provinzhauptstadt Qaqortoq nur selten. Die schlichte weiße Kirche mit der weiten Fensterfront ist der wichtigste Versammlungsort der gesamten Region. Im Altarraum hängt ein schlichtes Holzkreuz, eingerahmt von etwa 50 hellen Bildern der einheimischen Pflanzenwelt. Keine Apostel, keine Heiligen, keine blutenden Wunden. Die Natur sei Beschützer des Glaubens, wie Dorthe Petersen erklärt; der Mensch ein einfacher Bestandteil der Schöpfung. Die Kirche verstehe sich auch als Ort, in dem Grönländer der Erde, die sie bewohnen, mit Bescheidenheit und Respekt begegnen.
Natürlich singt und predigt Dorthe Petersen auf Grönländisch, der Sprache der Urbevölkerung. Uns erzählt sie von den besonderen Herausforderungen ihrer Arbeit auf Englisch.
"Ich möchte für die Kirche arbeiten, für die Leute predigen. Ich muss viel Zeit aufwenden, um zu den kleinen Dörfern zu reisen. Zu Konfirmationen, Beerdigungen, Hochzeiten und Taufen fahre ich im Boot hinaus. Da unsere Kirche kein eigenes Schiff besitzt, muss ich dafür immer eines mieten. Ich besuche jede der vier Gemeinden dreimal pro Jahr."
Reisen ist hier in Südgrönland keine Kleinigkeit. Wer von der Anhöhe, auf der die evangelische Kirche steht, über Qaqortoq blickt und hinüber auf die zerklüfteten Fjorde und Inseln mit ihren hoch aufschießenden, im Sommer schnee- und eisfreien Bergrücken, der bekommt einen Eindruck von der Macht der Landschaft über die Menschen. Die anstrengenden Fahrten zu den kleinen Siedlungen, die ständig wechselnden Herausforderungen der Umwelt - die Beschwernisse des Alltags bestätigen Dorthe Petersen darin, hier in Südgrönland wichtige Gemeindearbeit zu leisten.
Wer kann, zieht in die Hauptstadt Nuuk
Das Wasser ist übersät mit kleinen und großen Eisbergen, die von den Gletschern im Inland abbrechen und gleißend weiß in der Morgensonne blitzen wie eine Schafherde, die auf der Wasserweide vor Qaqortoq immer neue Konstellationen bildet. Dazwischen viele Buchten, Kanäle und Meerengen - mehrere Stunden kann so eine Fahrt dauern für Pastorin Dorthe Petersen zur nächsten Siedlung. Die Bootsführer müssen dem Treibeis ständig geschickt ausweichen. Blockiert ein Eisberg die Hafenausfahrt, kommt die Schifffahrt zum Erliegen.
"Als Pastorin bin ich auch verantwortlich für die Geistlichen in den kleinen Siedlungen. Als ihre Vorgesetzte bin ich auch dazu verpflichtet, ihre Finanzen zu überprüfen."
Die grönländische Gesellschaft ist starken Veränderungen unterworfen. Fischen, Seehund- und Waljagd sind weitgehend zum Erliegen gekommen. Wer kann, zieht in die Hauptstadt Nuuk, 700 Kilometer nördlich gelegen und Zentrum aller wirtschaftlichen Aktivitäten. Alkoholismus, Kindesmissbrauch und die harten einsamen Winter fernab der Zivilisation sind für viele Grönländer ein Problem:
"Wenn sie traurig sind, wenn sie Probleme haben, wollen die Leute mit einem Pastor sprechen. Im Winter, wenn es ständig dunkel ist, sind die Leute oft deprimiert. Ich spreche dann viel mit ihnen. Zum Beispiel wenn jemand vom Freund oder von der Freundin verlassen wurde. Alkoholmissbrauch ist auf Grönland für viele ein Problem. Außerdem sind viele Grönländer innerhalb der Familie als Kinder missbraucht worden."
Ein neues Gemeindemitglied für Südgrönland
Einer dänischen Studie zufolge ist sexuelle Gewalt gegenüber Kinder und Jugendlichen weit verbreitet. Als Gründe dafür nenne die Wissenschaftler unter anderem Alkoholismus, die schlechte Qualität der Schulen, isolierte Lebensbedingungen und die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung. Dorthe Petersen:
"Aber die jüngeren Leute haben gelernt, über ihre Schwierigkeiten zu sprechen, denn sie wollen nicht mehr in den Selbstmord getrieben werden. Es ist heute viel besser als vor 30 Jahren."
Am Ende des Sonntagsgottesdienstes kommen zwei Familien nach vorne. Ein junges Mädchen im traditionellen perlenbestickten, weißen Kleid trägt ihr wenige Tage altes Baby zum Taufbecken, der Vater im Teenageralter steht daneben. Dorthe Petersen übergießt das Neugeborene mit Taufwasser: Südgrönlands Christen haben ein Gemeindemitglied mehr. Die Verwandten knien auf den mit Seehundfell bezogenen Kissen vor dem Altar nieder und empfangen das Abendmahl. Die beiden Mütter der jungen Eltern verdrücken ein paar Tränen. Dann strahlen alle. Der Organist greift noch einmal in die Tasten, und die Gemeinde stimmt ein ins letzte Lied des Gottesdienstes.
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