Chor der Woche

Singen für das Miteinander

Von Gerhard Richter · 31.01.2014
In den 90er-Jahren kamen viele sogenannte Russlanddeutsche in den kleinen Ort Freren im Emsland. Der Kulturverein Impulse hat deswegen eine Initiative gegründet und kulturelle Begegnungen organisiert. So ist auch der Frerener Freundschaftschor entstanden.
Maria Kuiter: "Das hab ich auch immer am Anfang gedacht, wenn wir diese Treffen hatten, dass das so wehmütig ist, ein bisschen wehtut. Auch mir, nicht nur denen."
Das ist der Schmerz über die verlorene Heimat, und der wird hier regelmäßig gelindert. Der Raum, in dem sich der internationale Frerener Freundschaftschor jeden Mittwochabend trifft, ist eingerichtet wie ein kleines Museum. Eine altertümliche Nudelmaschine, eine abgegriffene siebensaitige Gitarre, eine russische Waschmaschine, gestickte Deckchen, Schulzeugnisse, Familienfotos. Die Relikte eines Lebens in Russland haben hier im Frerener Kulturzentrum eine Bleibe gefunden.
Nelly Heilmann: "Das ist eine sehr schöne Energie hier. Wo sind wir denn hier überhaupt? Man sieht so vertraute Gegenstände. Ja, man hat ein Stück Heimat."
Der Raum, die Gegenstände, die Musik spiegeln eine lange Suche nach Heimat wieder. Die Familienfotos und die Linien auf den Landkarten des Sowjetreiches dokumentieren die Geschichte von Nelly Heilmann und ihrer Familie. Exemplarisch für das Schicksal aller Russlanddeutschen, die von Katharina der Großen ins Land geholt wurden. Auf die Krim, an den Kaukasus, an die Wolga.
Mit weit ausholenden Bewegungen zeigt Nelly Heilmann an der Russlandkarte, wohin es ihre Familie seitdem verschlagen hat:
"Von der Ukraine nach Polen, die andere Oma sind durch Russland nach Novosibirsk gebracht worden, deportiert, Meine Familie, durch ganz Russland durch und weiter, weiter, weiter, weiter, Baikal, das ist der Fluss Lena, da sind die hier hoch und hier an dieser Stelle bin ich geboren."
Von Novosibisk nach Taschkent
Von Sibirien siedelten die Heilmanns in den Süden nach Taschkent in Usbekistan, dort hat Nelly Heilmann Musik studiert. Klavier und Geige. 1989 kommt sie nach Deutschland und lernt Altenpflege. Zu dieser Zeit kommen viele Russlanddeutsche nach Freren.
Liesel Lukosch war damals Schulsekretärin und sie erinnert sich an die Zuzugswelle:
"Es gab Schwierigkeiten zum Teil, wenn die Leute ganz wenig Deutsch sprachen. Dann wurde es natürlich sehr kriminell, wie man den Namen schreibt, wie man es überhaupt aufnimmt, in welche Klasse die Kinder müssen. Das war ein Zeichen eben für Freren, dass wir jede Menge Russendeutsche aufnehmen."
Jeder fünfte Einwohner hier ist Russlanddeutsch. Sie kapseln sich ab, bilden eine eigene Gemeinschaft. Sie helfen sich gegenseitig und verwirklichen erst mal ihren Traum vom Leben in Deutschland.
Eigenes Haus, tolles Auto, erzählt Maria Kuiter, die Vorsitzende des Frerener Kulturkreises Impulse:
"Und da gibt’s Straßenzüge hier, da ist Haus an Haus an Haus, da leben Menschen, die eben diesen Hintergrund haben. Und es sind schöne Siedlungen, schöne Straßen und manchmal kommt da auch Neid auf."
Lied: "Wir wollen aufstehen, aufeinander zugehen, von einander lernen, miteinander umzugehen."
Verschieden Kulturen in einem Dorf, die sich auch noch misstrauisch beäugen? Das ist doch eine verpasste Chance, findet Maria Kuiter. Seit 2009 organisiert sie mit dem Kulturkreis Impulse regelmäßige Abende mit dem Titel "Lebenswege". Alteingesessene und Zugezogene treffen sich ganz zwanglos und erzählen sich gegenseitig ihre Geschichte.
Maria Kuiter: "Also wir hatten jetzt 17 Treffen, wo dann Menschen von ihrem Leben berichtet haben, und darüber ist man so ins Gespräch gekommen. So wie sahen eure Dörfer aus, wie sahen die Häuser aus, was habt ihr beruflich gemacht und bei diesen Treffen wurde immer gesungen."
Gemeinsamer kultureller Schatz
Beim Singen stellt sich heraus, dass die Russlanddeutschen die gleichen alten Volkslieder kennen wie die Einheimischen. Ein kultureller Schatz, den sie jahrhundertelang sorgfältig gehütet und komplett mit zurück in die alte Heimat gebracht haben.
Maria Kuiter: "Da konnten wir, die wir hier im Emsland geboren sind, vier oder fünf Strophen singen. Das war dann schon viel, aber die konnten alle Strophen, alle die es gab!"
Aus den Lebenswege-Treffen entsteht ein fester Chor mit 18 Frauen und zwei Männern. Nelly Heilmann nutzt ihre musikalischen Kenntnisse und übernimmt die Leitung, spielt Piano und Geige. Mittlerweile hat der Internationale Frerener Freundschaftschor auch Lieder aus Italien oder Polen im Repertoire. Und er dient nicht nur ausschließlich der Integration der Russlanddeutschen. Ein holländisches Paar macht mit, das sich in Freren ein Haus gekauft hat.
Und für den 73-jährigen Horst Runneck und seine Frau ist der emsländische Chor nach einem langen Lebensweg über viele Stationen ebenfalls zur Heimat geworden:
"Also ursprünglich bin ich geboren in Schlesien, dann nach Spremberg umgesiedelt in die ehemalige DDR, von dort nach Hoyerswerda und dann nach dem Westen. Und ich denke, hier werden wir bleiben."
Für Maria Kuiter, die Vorsitzende des Kulturkreises hat sich das Projekt ebenfalls gelohnt. Es gibt wieder mehr Miteinander im Ort und sie hat eine Ahnung von der Heimat der anderen bekommen:
"Und wenn sie so erzählen, wo sie gelebt haben und wenn man die Augen schließt, und hört diese Lieder, kann man sich das fast vorstellen."
Deutschlandradio Kultur stellt jeden Freitag um 10:50 Uhr im "Profil" Laienchöre aus der ganzen Republik vor. Im "Chor der Woche" stehen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes, jeden Alters, jeder Formation und Größe oder Stilrichtung, seien sie Mitglied eines Chorverbands oder auch nicht.
Mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Chorverbands
Mehr zum Thema