Chinas Kulturrevolution aus Kinderperspektive

Rezensiert von Michael Schikowski · 07.07.2013
In ihren biografischen Erinnerungen erzählt Zhao Jie, wie sie im China Maos groß wurde. Entstanden ist ein ergreifendes Dokument darüber, wie die Kulturrevolution Kultur zerstörte und Menschen hilflos sich selbst überließ.
Nicht weit vom Platz des Himmlischen Friedens wächst Zhao Jie auf. Von allen wird sie Cui gerufen. Ihre Eltern sind Autoren und Schauspieler in einer Propagandaeinheit der Armee, immer mit der Truppe im Land unterwegs, an den politischen Konfliktlinien des Riesenreichs – auch in Tibet. Cui wächst bei ihrer Großmutter auf. Cui geht in den Kindergarten, sie geht zur Schule, sie verliebt sich – alles wie bei jedem anderen Mädchen auf der Welt auch. Allein, dieses Mädchen wächst im kulturevolutionären China auf.

Der Maoismus war nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass er der eher auf Ausgleich und Harmonie bedachten Philosophie der Chinesen zuwiderlief. Er war zudem noch eine Überbietung des gewöhnlichen Kommunismus der Länder wie Kuba oder der Sowjetunion. Denn für den Normal-Kommunisten war die Bourgeoisie diejenige Gesellschaftsklasse, die im Besitz der Produktionsmittel war. Wechselten die Produktionsmittel den Besitzer, wäre nach diesem Verständnis bald auch das bourgeoise Denken verschwunden.

Mao entwickelte dagegen einen radikalisierten Begriff der Bourgeoisie – als bloße Gesinnung. Damit ließ sich die Revolution auf Dauer stellen. In der Folge blieb nichts und niemand von den Entscheidungen, den Ereignissen der politischen Führung unberührt – allemal in Peking. 1966, als Cui neun Jahre alt ist, ruft Mao die Kulturrevolution aus.

"Unsere kleine Lehrerin mit den langen Zöpfen trat mit einem Stapel Prüfungsblätter ins Klassenzimmer. Schweigend betrachtete sie uns durch ihre dicken Gläser eine ganze Weile. Dann sprach sie mit einer ernsten, leicht zitternden Stimme: "Die Klausur fällt aus. Ab heute beginnen die Sommerferien, weil wir Lehrer an einer Kampagne teilnehmen müssen. Diese Kampagne heißt 'die Große Proletarische Kulturrevolution'. Habt ihr mich verstanden?" 'V-e-r-s-t-a-n-d-e-n!', antworteten wir wie immer im Chor, indem wir jeden Laut in die Länge zogen, um der Antwort Nachdruck zu verleihen. Aber wir blieben auf unseren Plätzen sitzen und beobachteten die Lehrerin verständnislos. (…) Erst als wir durch die Fenster sahen, dass die Kinder aus anderen Klassenzimmern hinausströmten, fingen wir an, die Lage zu begreifen und zögernd von unseren Stühlen aufzustehen. Unschlüssig gingen wir an unserer stummen Lehrerin vorbei und verließen das Klassenzimmer, dies zum allerersten Mal in unserem Leben, bevor es läutete."

Kulturrevolution lernt man in diesem Buch als Zerstörung von Kultur kennen und, noch wichtiger, als Zerstörung ihrer Grundlagen. Das siebenhundert Seiten starke Buch hat die Autorin in zwei Teile gegliedert. Während Zhao Jie den ersten Teil "Die Geburt des Phönix" nennt, ist der zweite Teil "Das Sterben des Phönix" überschrieben. In ihm wird die kulturrevolutionäre, umgekehrte Bildungsgeschichte erzählt. Denn nach Abschluss der Schule meldet sich Cui freiwillig zur Arbeit auf dem Land.

1968 wurde Maos Anweisung "Jugendliche mit Schulbildung sollen aufs Land gehen" veröffentlicht. Zugleich sollten Arbeiter und Bauern sich an der Universität einschreiben können. Ein Schüler wird dadurch bekannt und zum Vorbild erkoren, dass er bei einer Prüfung ein leeres Blatt abgibt. Ein Rektor klagt in einem Brief an Mao, dass einige Studenten nicht einmal in der Lage seien, ein Buch zu lesen. Dieser Brief ist ungehörig. Der Rektor und viele weitere Lehrer werden Opfer gezielter politischer Kampagnen.

Bis 1976 wurden nicht weniger als sechzehn Millionen Jugendliche mit Schulabschluss aufs Land verschickt. Darunter auch die Rotarmistin Cui – über tausend Kilometer von Peking entfernt in Erdhöhlen hausend und unter erbärmlichen Bedingungen jahrelang dürftige Landwirtschaft betreibend. Intellektuell muss sie mit wenigen politischen Parolen auskommen. In China spricht man auch von der verlorenen Generation.

"Als wir noch in der Schule waren, galt es als der schwerste Brocken für jede Klausur im Unterrichtsfach Geschichte der KP Chinas, die zehn innerparteilichen Linienkämpfe auswendig zu lernen (…) Wir mussten den Hintergrund und Hergang sowie das Ergebnis des jeweiligen Kampfes und natürlich dessen Datum kennen, die Bezeichnung mit den richtigen Personen verbinden und zwischen 'Linksopportunismus' und 'Links-Abenteurertum-Opportunismus' bzw. 'Links-Putschismus' sowie 'Rechtsopportunismus' und 'Rechtsseparatismus' unterscheiden können."

Mit politischer Bewusstseinsbildung hatte das natürlich alles nichts zu tun. Veränderte politische Bedingungen lassen Menschen wie Cui hilflos zurück. Als die politische Führung wieder einmal einen Strategiewechsel vornimmt, ist sie zur eigenständigen Stellungnahme nicht in der Lage. Zhao Jie schreibt:

"Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nichts von der Politik verstand."

Die Lebensgeschichte der Zhao Jie endet, als sie endlich ihren Bildungsaufstieg mit einem Studienplatz in Peking beginnen kann – Studienfach: Deutsch.

Das Buch bietet viele berührende Geschichten der Kindheit und Jugend und lässt nichts Forciertes spüren, will nichts beweisen. Zhao Jies Erinnerungen sind ein ergreifendes Dokument der Ereignisse der Kulturevolution aus der Perspektive eines erwachsen werdenden Kindes, das einen Platz in der Gesellschaft sucht. Nebenbei gewährt das Buch Einblicke in die chinesische Lebenswelt, ihre extreme Schamkultur, die fast verzweifelten Versuche Harmonie zu bewahren und die Neigung, in kräftigen und klaren Bildern zu sprechen. Die Großmutter spricht beim Abschied von Cui, als diese zur Arbeit auf dem Land aufbricht:

"Die Flügel des Nestlings sind stark geworden, so muss er wegfliegen."

Buchcover: "Kleiner Phönix" von Zhao Jie
Buchcover: "Kleiner Phönix" von Zhao Jie© Karl Blessing Verlag
Zhao Jie: Kleiner Phönix. Eine Kindheit unter Mao
Karl Blessing Verlag, München 2013
720 Seiten, 24,99 Euro
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