Cheri Florance: "Brücken aus der Stille"

Rezensiert von Kim Kindermann · 07.04.2005
Er wirkte wie taub. Gefühle erreichten ihn wie durch eine Glaswand. Berührungen konnte er schlecht ertragen. Schon kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes erfährt Cheri Florance, dass ihr Sohn Whitney Autist ist. Eine Chance auf Heilung sehen die Ärzte nicht und empfehlen daher, das Kind in einem Heim unterzubringen.
Doch das kommt für die promovierte Sprachtherapeutin nicht in Frage: Sie macht ihren Sohn zum eigenen Forschungsprojekt und findet so einen Weg aus Whitneys abgekapselter Welt. Heute besucht der mittlerweile zum Teenager herangereifte Junge ein College und spielt leidenschaftlich gern Football. Es ist ein eindrucksvoller Lebens- und Leidensbericht, den Cheri Florance in ihrem Buch "Brücken aus der Stille. Eine Mutter heilt ihren autistischen Sohn" beschreibt. Seite für Seite spürt man die Erschöpfung, die Ratlosigkeit und auch die Verzweiflung, die Eltern überkommt, wenn ihr Kind anders ist, wenn es krank ist und ein normaler Alltag unmöglich wird. Freizeit, Urlaub und Außenkontakten werden selten. Freunde verabschieden sich. Oft geraten die Eltern selbst in eine Isolation. Vereinsamen. All das schildert die Ich-Erzählerin mitreißend, fast bis zur Schmerzgrenze. Und das macht das Buch sehr wertvoll. Für betroffen Eltern allemal, aber auch für alle anderen, denn das Buch macht deutlich: Wer anders ist, hat es schwer in unserer Welt.

Darüber hinaus macht das Buch Mut: Es zeigt Engagement zahlt sich aus. Sechzehn Jahre streitet Cheri Florance mit Institutionen, Schulen und Ärzte um die bestmögliche Betreuung für ihr Kind. Sie wehrt sich erfolgreich gegen das Etikett "behindert" und schafft es so, dass Whitney, die beste Förderung erhält. Auch das ist ein großer Pluspunkt des 352-seitigen Schmökers, der sich - flüssig geschrieben - gut lesen lässt und dazu noch ausführlich über gängige Wissenschaftstheorien in Sachen Spracherwerb und Sprachbehinderung unterrichtet. Denn Cheri Florance, die selbst jahrelang mit sprach- und hörbehinderten Kindern gearbeitet hat, sieht den Ursprung von Whitneys Krankheit in einer Kommunikationsstörung.

Weil Whitney anfangs ausschließlich auf visuelle Anreize reagiert, sich Bilder sehr gut merken kann und über einen extrem guten Orientierungssinn verfügt, nimmt die Wissenschaftlerin und Mutter an, dass "die Überfunktion des visuellen Gehirns vermutlich die auditiven Bahnen überlastet, weshalb die durch das Gehör aufgenommene Information mangelhaft verarbeitet wird und sich die sprechverarbeitenden Hirnareale schlechter entwickelt haben."Ein Zitat, das symbolisch für das gesamte Buch steht, schließlich macht es deutlich: Cheri Florance schafft es nie, die Mutter und Wissenschaftlerin in ihr von einander zu trennen. Ihr Kind ist zugleich immer auch ihr Forschungsprojekt. Jahrelang trainiert sie daher anhand von Bildgeschichten Whitneys Sprachgefühl und hat Erfolg: Schritt für Schritt lernt der Junge hören und sprechen, lernt seine Außenwelt wahrzunehmen. Kommt - wie die Mutter schildert - in dieser Welt an. Gesund wie es scheint.

Und genau das ist das Problem des Buches: Cheri Florance, die selbst zwar immer wieder von einer pseudo-autistischen Störung ihres Sohnes spricht, vermittelt aber über weite Strecken, dass sie einen Autisten geheilt hat. Eine Aussage, die Fachleute, aufhorchen lässt: Denn nach wie vor gilt: Autismus ist unheilbar. In den USA, wo das Buch von Dr. Cheri Florence schon letztes Jahr erschienen ist, wird sie daher in Fachkreise kritisch diskutiert. Zumal es immer wieder zu solch vermeintlichen Wunderheilgeschichten kommt, die Eltern Hoffnung auf Heilung machen. Auch Cheri Florance hat keine wissenschaftlichen Belege für ihre Behauptung. Allein die dramatische Verbesserung von Whitneys Zustand spricht für ihre Theorie. Allerdings muss man dazu sagen: Es ist kein Einzelfall, dass Autisten, die zunächst nicht sprechen können, es mit Hilfe von Sprachtherapeuten doch noch ganz behutsam lernen. Genauso wie Whitney. Dabei zeigt die Erfahrung der Autismusforschung, je früher und länger geübt wird, desto größer ist der Erfolg. Behält man das im Kopf, dann macht die Lektüre von Cheri Florance Buch sogar Spaß und man kann ihrer Erfolgserklärung auch etwas abgewinnen: Nämlich dass es egal ist, welchen Weg man geht und wie man ihn benennt. Wichtig ist nur, was rauskommt! Und so ist dieser sehr persönliche Erfahrungsbericht, der stellenweise kitschig und pathetisch wirkt, dennoch ein Gewinn für den Leser.

Dr. Cheri Florance: Brücken aus der Stille. Eine Mutter heilt ihren autistischen Sohn
Krüger Verlag
352 Seiten
19,90 Euro