Chemie

Wundersame Maserungen und Symmetrien

Eine Chemikerin bereitet in einem Analytik-Labor Proben für die Chromatografie vor.
Eine Chemikerin bereitet in einem Analytik-Labor Proben für die Chromatografie vor. © picture alliance / dpa / Foto: Soeren Stache
Von Eva Hepper  · 03.06.2014
Der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge legte die Basis der heutigen Chromatografie - eine Visualisierungsmethode. Seine Farbexperimente auf Löschpapier haben bis heute ihre Faszination nicht verloren, wie "Der Bildungstrieb der Stoffe" beweist.
Mit der tiefblauen Mitte, den türkisen Zonen, der zart beigen Umrisslinie und den gezackten braunen Formationen am Rand sieht der Farbklecks aus wie die Aufsicht eines Sees. Fast glaubt man, verschiedene Temperaturzonen zu erahnen, so nuanciert und filigran verlaufen die Farben.
Doch zeigt sich hier etwas ganz anderes: die chemische Reaktion von schwefelsaurem Manganoxydul mit rotem Cyaneisenkalium. Nacheinander auf Löschpapier getropft, haben die Stoffe in ihrer Wechselwirkung aufeinander gleichsam "eigenständig“ das Bild geschaffen. "Da ergibt sich dann eine vollkommene Fernsicht-Malerei, wie sie der geschickteste Maler nicht richtiger hervorbringen kann“, schwärmte um 1850 Friedlieb Ferdinand Runge, der die Substanzen zusammengetröpfelt hatte.
Entdeckung einer Visualisierungsmethode
Ursprünglich wollte der Chemiker eine andere Analysemöglichkeit finden, als die bis dato ausschließlich im Reagenzglas praktizierte. Tatsächlich entdeckte er eine Visualisierungsmethode der Scheidekunst (die Basis der heute gängigen Chromatografie) und – wie er glaubte – eine hinter den Bildern wirkende Kraft der Natur, die er den "Bildungstrieb der Stoffe“ nannte. Durch diesen offenbare die Schöpfung selbst mittels sinnvoller, oftmals symmetrischer, und mithin auch schöner Formen ihre Geheimnisse.
Von 1850 an veröffentlichte Friedlieb Ferdinand Runge, der in Berlin, Göttingen und Jena studiert hatte und als Betriebschemiker in Oranienburg angestellt war, seine "sich selbst malenden Bilder“ im Eigenverlag. Gemeinsam mit seinen präzisen Beschreibungen und begeisterten Kommentaren erscheinen sie nun in einem herrlichen Folioband – in bestechender Druckqualität und im Originalformat von circa 4x4 bis 15x13 Zentimeter abgebildet.
Alle Bilder zeigen eine schier unerschöpfliche Farb-, Form- und Strukturvielfalt mit wundersamen Maserungen und Symmetrien. Runge erkannte ihren künstlerischen Wert und wünschte sich seine Farbkleckse als Anschauungsmaterial in Akademien und Ateliers. Doch die malenden Zeitgenossen reagierten reserviert.
Dabei hatte der Chemiker durchaus Vorläufer und Mitstreiter, wie Friedrich Weltzien in seinem ausgezeichneten Nachwort schreibt. Darin erläutert der Kunsthistoriker die Verwandtschaft Runges etwa mit Ernst Florens Friedrich Chladni oder Georg Friedrich Lichtenberg, die als Physiker bereits im 18. Jahrhundert mit "naturwüchsigen“ Staub- und Sandbildern experimentiert und etwa die Romantiker inspirierten.
Beeinflussung späterer Generationen
Runges Farbkleckse, so weist Weltzien nach, beeinflussten spätere Generationen: etwa die Surrealisten oder die experimentellen Fotografen. Eine solche Wirkgeschichte war zu Runges Lebzeiten nicht absehbar. Erfolg blieb dem Chemiker, der in prekären Verhältnissen lebte und als Eigenbrötler galt, verwehrt; trotz bahnbrechender Entdeckungen wie etwa der Herstellung synthetischer Farbstoffe aus Kohlenteer. Doch seine größte Leidenschaft blieb die "malende Chemie“, die jetzt - wie auch der eigensinnige Wissenschaftler selbst - mit diesem Prachtband aufs Schönste gewürdigt wird.

Friedlieb Ferdinand Runge: Der Bildungstrieb der Stoffe
Herausgegeben von Judith Schalansky in der Reihe Naturkunden
Matthes & Seitz, Berlin 2014
114 Seiten, 68,00 Euro