Chefarzt: Ein Signal gegen die Magersucht setzen

17.04.2008
Der Chefarzt des Fachzentrums für gestörtes Essverhalten in Bad Oeynhausen, Georg Ernst Jacoby, hat gefordert, Position zu beziehen gegen Modelshows, Modefotos oder Werbung, in denen dünne Menschen als Vorbilder gelten. Nach Langzeitstudien sterben bis zu 20 Prozent der Patientinnen an der Erkrankung.
Stephan Karkowsky: Ich begrüße den Chefarzt der Spezialklinik für Essstörungen in Bad Oeynhausen, Dr. Georg-Ernst Jacoby. Guten Morgen!

Georg-Ernst Jacoby: Guten Morgen, Herr Karkowsky!

Karkowsky: Was halten Sie denn von dieser Idee aus Frankreich, wenn mich einer magersüchtig macht, dann geht er dafür ins Gefängnis?

Jacoby: Das ist schwer, so auf Anhieb zu sagen. Man kann sich natürlich fragen, ob das funktioniert. Aber ich denke, dass es gut ist, ein Signal zu setzen, dass man einfach sagt, so, das kann so nicht weitergehen. Man muss einfach sagen, das geht nicht, man kann nicht die ganzen Mädchen verrückt machen und einfach zugucken, sondern da wird mal was gemacht jetzt. Ob es funktioniert, na Gott, das wird man sehen.

Karkowsky: Die Franzosen gehen ja offenbar davon aus, dass es Menschen gibt, die junge Mädchen zur Magersucht anstiften. Ist das denn tatsächlich das Problem?

Jacoby: Ich glaube nicht, dass man so direkt, und deswegen bin ich ja etwas skeptisch, auch wirklich so ein Strafbestand dann nachzuweisen wäre, der Anstiftung. Sondern ich glaube mehr, dass es insgesamt so eine Meinung ist, eine Mode ist und dass es irgendwie auch schick sein kann, dünn zu sein, und dass viele da natürlich mitspielen. Viele, "Deutschland sucht den Superstar" und was es da alles für Leute gibt, die da mitmachen. Da muss man einfach mal sagen, wir machen das nicht mehr mit, und wir machen auch nicht mehr diese Model-Shows mit, wo dann, das ist ja schon länger nicht mehr möglich, wo Größe 34 dann möglich ist. Da wird einfach nicht mehr mitgemacht, und es wird klar mal Position bezogen, das geht so nicht. Und das ist eine Volksverhetzung letztendlich, wenn man so etwas zulässt.

Karkowsky: Wir können das ja dennoch mal durchspielen, falls dieses Gesetz tatsächlich durchkommt. Stellen Sie sich vor, Sie wären nun Richter in Frankreich und Sie kriegen vom Staatsanwalt ein paar Fälle auf den Tisch. Da ist zum Beispiel der Fall, ein Magazin veröffentlicht alte Nacktfotos von der Präsidentengattin, von Carla Bruni, die hat es ja tatsächlich gegeben.

Jacoby: Ja, und da ist sie sehr dünn.

Karkowsky: Sehr dünn.

Jacoby: Richtig, ja.

Karkowsky: Man sieht die Rippen, man sieht die Beckenknocken. Und nun sieht meine Tochter das und sagt, so möchte ich auch aussehen. Und ein paar Wochen später ist sie auf 35 Kilo runtergehungert. Wen sollte man denn da anklagen?

Jacoby: Tja, wen soll man da anklagen? Die Carla Bruni, dass sie das zugelassen hat oder …

Karkowsky: Das Magazin?

Jacoby: Oder den Herausgeber des Magazins? Oder den französischen Präsidenten, dass er jetzt vielleicht auch mit solch einem Gesetz etwas vorschnell vielleicht oder unvorbereitet auch unterstützt. Ich kann es schwer sagen.

Karkowsky: Oder mich als Vater, weil ich nicht ausreichend aufgepasst habe?

Jacoby: Weil ich nicht auf meine Tochter aufgepasst habe. Natürlich, kann man auch sagen.

Karkowsky: Wäre das denn überhaupt ein möglicher Fall, Anstiftung zur Magersucht durch Modefotos und Werbung? Ist das nach wie vor das, was Mädchen da reizt?

Jacoby: Das ist ein sehr komplexes Thema. Natürlich, es ist so etwas, und es ist ja wirklich ganz weit verbreitet. Ich geh manchmal durch die Stadt, und dann weiß ich nicht, sind das denn neue Patientinnen von mir, die ich noch gar nicht kennengelernt habe, oder ist es nur eine ganz normale Schulklasse, die da irgendwo vor dem Bäckereigeschäft da steht und dann so Stielaugen macht und bleich und dünn und schwarzgekleidet ist.

Karkowsky: Lassen Sie uns noch einen weiteren Fall konstruieren. Sagen wir, ich bin 16 Jahre alt, lerne im Internet eine gleichaltrige Freundin kennen. Die führt mich dann ein in ein Netzwerk von Mädchen, die alle nur ein Ziel haben, nämlich möglichst dünn sein. Was würden Sie da als Richter sagen? Wäre das Anstiftung zur Magersucht per Internet?

Jacoby: Na, das ist natürlich eine Frage der Strafmündigkeit dann auch, wenn man 16 ist. Aber man könnte das natürlich sagen. Wenn jemand, die 18 Jahre alt ist, eine 16-Jährige dazu animieren würde, nicht zu essen oder diese ganzen Tricks der Magersüchtigen durchzuführen, Watte zu essen oder irgendwas abzulutschen oder so, was keine Kalorien hat, ich will diese ganzen Tipps auch gar nicht weitergeben. Man könnte natürlich sagen, dann könnte man einen Musterprozess führen und sagen, das darf nicht sein so etwas und bitte, das ist nicht möglich. Man kann nicht Leute jetzt dem Tode näher bringen, indem man einfach leichtfertig solche dummen Äußerungen irgendwo ins Internet setzt.

Karkowsky: Wie realistisch ist denn dieser Fall, Anstiftung durch das Internet? Kommt das häufig vor, dass Mädchen im Internet ...?

Jacoby: Das kommt schon häufiger vor. Das ist auch ein bisschen so ein grauer Markt, dass die ganzen Pro-Ana-Seiten und dieses Thema auch dann zum Teil gesperrt werden. Nur erreicht man natürlich durch diese Sperrung noch nicht viel. Das macht es ja nur noch viel interessanter. Und es gibt dann doch Umwege, um dann doch darauf zu kommen. Es gibt eine kleine Gemeinde, eine sogenannte Pro-Ana-Gemeinde, die dann alle Tipps untereinander aufteilen. Und, was das Schlimme ist, die dann sagen, das ist natürlich schön, ich bin wie ein Todesengel. Das ist so schön, so dünn zu sein, herrlich. Das kann man natürlich auch dann nicht mit Gesetzesbewährung wegkriegen. Das ist natürlich irgendwie auch ein Spiel mit der Gefahr, ein Spiel mit der Todeslust, die vielleicht auch nicht unbedingt durch solche Gesetze zu behindern ist, genau wie man diese ganzen anderen, S-Bahn-Surfen und so was, damit nicht wegkriegen würde oder diese ganzen satanistischen Sachen. Das kriegt man nicht weg, indem man Gesetze macht.

Karkowsky: Wir reden über die Pläne der Franzosen, die Anstiftung zur Magersucht strafbar zu machen mit dem Chefarzt der Spezialklinik für Essstörung in Bad Oeynhausen Dr. Georg-Ernst Jacoby. Herr Jacoby, die Franzosen geben die Zahl der Magersüchtigen mit 30.000 bis 40.000 an. Wie viele gibt es denn in Deutschland?

Jacoby: Das ist eine vorsichtige Schätzung. Deutschland hat ja mehr Einwohner. Ich gebe meistens an, dass wir etwa mit 100.000 Magersüchtigen rechnen könnten in Deutschland. Auch das ist eine geschätzte Zahl, die hochgerechnet ist.

Karkowsky: Und Sie haben schon gesagt, für manche ist es so ein Spiel, ein Spiel auch mit der Gefahr. Wie gefährlich ist dieses Spiel denn? Ich hab gelesen, jede zehnte Magersüchtige ist nicht mehr zu retten und stirbt. Was ist mit den anderen?

Jacoby: Ja, das ist natürlich immer auch eine schwierige Frage. Es gibt Langzeitkatamnesen, sodass nach 20 Jahren dann doch in der Größenordnung von 15 bis 20 Prozent der Patientinnen an ihrer Krankheit gestorben sind. Wenn man das nur lang verfolgt, findet man eine hohe Rate von Verstorbenen, die einerseits entweder verhungern oder Suizid begehen oder an körperlichen Komplikationen dann auch sterben. Das ist schon eine gefährliche Krankheit.

Karkowsky: Und diejenigen, die quasi rechtzeitig behandelt werden, werden die vollständig wieder gesund?

Jacoby: Na, das ist unterschiedlich. Wir machen das ja hier, ich habe auch schon in den 21 Jahren, die ich hier arbeite, sicher 3000 Magersüchtige auch behandelt oder zumindest als Chefarzt mitbehandelt. Ja, so zwei Jahre später machen wir solche Nachuntersuchungen. Dabei kommt raus, dass so 45 Prozent sind dann gesund eigentlich. Man muss bestimmte Kriterien natürlich ansetzen. Was bedeutet gesund? Zum Beispiel wenn man Normalgewicht hat und dafür bulimisch geworden ist, bedeutet das natürlich nicht gesund. Aber man muss diese ganzen Kriterien dann festlegen, aber ungefähr so etwas kommt dabei raus.

Karkowsky: Nun sind ja die Symptome relativ schnell sichtbar, oder?

Jacoby: Ja.

Karkowsky: Wenn eine Jugendliche innerhalb kurzer Zeit sehr viel abnimmt, das fällt ja auf, es soll ja auffallen. Nach der Logik der Franzosen müsste demnach die erste Frage lauten: Wer hat dir eingeredet, du seiest zu dick, um den Urheber zu bestimmen und bestrafen zu können. Das ist natürlich Blödsinn. Was können denn Leute, denen das auffällt, Verwandte, Freunde tun, um zu helfen?

Jacoby: Die könnten die jungen Mädchen darin bestätigen, dass sie so, wie sie sind, in Ordnung sind. Und das ist oft ein häufiges Motiv, dass die Mädchen auf irgendeine unbestimmte Weise das Gefühl haben, sie seien so, wie sie sind, nicht in Ordnung. Sie beziehen das meistens, das ist so eine soziokulturelle Schablone möglicherweise, die beziehen das meist auch dann, bin ich sicher zu fett. Irgendwas anderes steckt aber oft dahinter. Irgendwie fühlen sie sich unwohl, sind mit ihrem Körper unzufrieden oder haben eine Liebesenttäuschung hinter sich oder dies der jenes. Es gibt viele, es gibt Hunderte Gründe dafür, die aber dann in diese Schablone der Magersucht oder auch der Bulimie passt, das eben typische anerkannte Erkrankung für junge Frauen heutzutage ist.

Karkowsky: Würden Sie sagen als Fazit, Anstiftung zur Magersucht, das ist eigentlich nicht das große Problem? Deutschland braucht so ein Gesetz nicht?

Jacoby: Das ist schwer zu sagen. Es ist ja, an sich sollte man ja keine Gesetze sozusagen als Fanal erlassen. Als Fanal finde ich es günstig, würde ich es auch therapeutisch unterstützen. Aber ob ich als Jurist sagen würde, das Ganze ist sinnvoll oder da kann man überhaupt auch Täter dingfest machen, ob das möglich, ob das machbar ist, das ist eine andere Frage. Aber da fehlt mir, da weiß ich nicht, wie Juristen denken, ehrlich gesagt.

Karkowsky: Gut, darüber zu reden. Gut, zu sagen, das ist etwas ganz Böses, indem man es strafbar macht. Aber schwierig, dann Täter tatsächlich dingfest zu machen. Das sagt der Chefarzt der Spezialklinik für Essstörungen in Bad Oeynhausen Dr. Georg-Ernst Jacoby, bei dem ich mich für dieses Gespräch bedanke.

Jacoby: Ich danken Ihnen!