Charakterbildung kommt zu kurz

Rezensiert von Angela Gutzeit · 22.09.2013
Weil wir das Lernen allein an den Zielen der Wirtschaft ausrichten, entfernen wir uns zunehmend vom humanistischen Menschenbild, stellt der Philosoph Julian Nida-Rümelin fest. Er fordert ein Ende des Denkens "in Selektions- und Aufstiegskategorien".
Philosophen sind zurzeit gefragte Leute. Kaum ein Tag vergeht ohne Precht in den Medien. Aber auch so anspruchsvolle Denker wie Michael Sandel, Byung-Chul Han, Martin Seel oder Hartmut Rosa können sich vor Anfragen nicht retten.

"Die Philosophie", so sagte einmal Jean-Francois Lyotard, "antwortet auf ein grundsätzliches Bedürfnis des Menschen: dem Begehren nach Sinn (...), das eine Negativität, das heißt, eine Abwesenheit als Bedingung hat."

Demnach muss das Bedürfnis nach Sinn heute immens groß sein, denn die Bücher und Debatten zu Fragen der Gerechtigkeit, nach den Grenzen des Kapitalismus, nach unserem Verhältnis zur Natur, zur Liebe und zum Tod sowieso und vor allen Dingen nach dem richtigen, dem guten Leben – sie häufen sich.

Für den Philosophen Julian Nida-Rümelin kann eine hochkomplexe, aber – wie er meint – in ihren Strukturen erstarrte Gesellschaft wie die unsere, auf diese Fragen keine zukunftsweisenden Antworten mehr finden, wenn eine grundlegende Voraussetzung fehlt: Bildung.

"Epochenbruch" und neuer Humanismus
Der Bildungspraxis, so schreibt Nida-Rümelin in seinem neuen Buch "Philosophie einer humanen Bildung", sei die Verbindung zum philosophischen Denken abhandengekommen und damit die Fähigkeit, Orientierung zu geben, eine kulturelle Leitidee zu entwickeln. Denn nicht zuletzt hier liege die Ursache für ein problematisches Menschenbild und damit für gesellschaftliche Fehlentwicklungen in unserer Zeit. Der Philosoph wünscht sich nichts weniger als einen "Epochenbruch" herbei und das mit Hilfe eines erneuerten Humanismus als Grundlage "aller Bildungspraxis und Bildungspolitik".

Man merkt schon, mit dem eben erwähnten Lyotard hat der ehemalige Kulturstaatsminister nicht viel mehr gemein als das besagte Zitat, hat doch der französische Philosoph der Postmoderne dem Humanismus klassischer Prägung adé gesagt.

Aber genau diesen möchte Nida-Rümelin wiederbelebt sehen und bescheinigt deshalb dem postmodernen Denken, wie speziell auch den systemtheoretischen Ansätzen eines Niklas Luhmann die absolute Unverträglichkeit mit einem humanen Denken, dass das verantwortungsvolle, urteilsfähige Individuum in den Mittelpunkt stellt. Er schreibt:
Unser modernes Menschenbild, unser aktuelles Selbstbild, sollte sich auf die humanistische Tradition der frühen Neuzeit und nicht auf die rationalistischen, technokratischen, utopistischen und totalitären Abwege der Moderne beziehen. (...) Der erneuerte Humanismus, für den ich plädiere, stellt dem die verantwortliche Persönlichkeit gegenüber, die (...) erkennbare Gründe hat, erkennbar in den Gründen, die sie vorbringt, und die den Kern humaner Praxis, den respektvollen Umgang keiner Form von Instrumentalisierung opfert. (...) Bildung soll nicht das Funktionieren der Ökonomie sichern, Bildung soll keinen ideologischen Zielen dienen, sondern Bildung ist der Weg zur autonomen, zur selbstbestimmten Existenz.

Ein Gedanke, der zurückgeht bis zu Sokrates, der zur Zeit der attischen Demokratie zu dem Schluss kam, Erkenntnis, also Bildung, sei etwas, das wir um ihrer selbst willen erstreben sollten. Dieser Idee folgend durchstreift Nida-Rümelin auf vielen Seiten dieses Buches die griechische Klassik. Er wird fündig bei Platon, Aristoteles, dann bei Rousseau, Kant, und immer wieder zitiert er den Schulreformer und Bildungsgelehrten Humboldt. Aus ihren Schriften destilliert er ein bildungsphilosophisches Kondensat humanistischen Denkens.

Julian Nida-Rümelin: "Philosophie einer humanen Bildung"
Julian Nida-Rümelin: "Philosophie einer humanen Bildung"© edition Körber-Stiftung
Atemloser, sinnloser Umbau des Bildungswesens
Demnach ist Bildung, verstanden als Förderung von autonomer Urteilskraft und sozialer Verantwortung, unabdingbar, um in unserer Gesellschaft Entscheidungen treffen und deren Folgen einschätzen zu können. Sehr gekonnt und elegant bringt Nida-Rümelin dieses Potential schließlich in Stellung gegen PISA, Bologna, G8, G9, gegen den ganzen atemlosen, sinnlosen Umbau, wie er zur Zeit nach Rümelins Meinung mehr denn je im Bildungswesen stattfindet. Und das ist natürlich das Problem! Die derzeitige Bildungspolitik strebt unverdrossen nach Anpassung an internationale Standards, nach Optimierung des Lernens im Sinne wirtschaftlicher Verwertbarkeit. Der Zug fährt also in eine ganz andere Richtung!

Aber der Philosoph bleibt stoisch. Als Kantianer, der sich zu den zentralen Begriffen von Vernunft, Freiheit und Verantwortung der praktischen Philosophie bekennt, erklärt er den Humanismus kurzerhand zum Wiedergänger. Vielleicht hat er recht, denn mit seiner Forderung nach mehr Einheit von Theorie und Praxis im Bildungswesen trifft er durchaus einen Nerv der Zeit.

Konkret wird Nida-Rümelin im dritten Teil seines Buches. Wie viele andere Autoren auch, die sich der Bildung widmen, spricht sich er sich zum Beispiel gegen die selektierende Wirkung des dreigliedrigen Schulsystems aus, aber auch gegen die Tendenz bei eher progressiv Gesinnten, möglichst viele Schüler durch das Abitur zu bringen. Das Gute an Nida-Rümelins Buch ist, dass er die einzelnen Aspekte, wie auch diesen, immer in seine philosophische Leitidee von Bildung als ganzheitlicher Charakter- und Geistesformung des Menschen einbindet. So eben auch, wenn er fordert, dass wir uns grundsätzlich über die Wertigkeit Gedanken machen müssen, die wir Abschlüssen, Berufen, Positionen in unserer Gesellschaft zuschreiben. Da liegt in der Tat einiges im Argen. Nida-Rümelin formuliert das so:

Um dieses Denken in Selektions- und Aufstiegskategorien aufzubrechen, müssten wir das ganze System der Leistungsbeurteilung, Entlohnung und Wertschätzung in Frage stellen. (...) Niemand kann ernsthaft annehmen, dass die Tätigkeit eines Altenpflegers in einer städtischen Einrichtung mit begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen leicht ist. (...) Zugleich scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass die Altenpflegerinnen äußerst bescheiden entlohnt werden. (...) Wie kommen wir dazu, diese Berufstätigkeit (...), die in einer alternden Gesellschaft eine so zentrale Rolle für das allgemeine Wohl spielt, so niedrig einzuschätzen?

Geschlechter-Hierarchien in Frage stellen
Es müssen also traditionelle Hierarchien in Frage gestellt werden. Damit meint Nida-Rümelin ausdrücklich auch die der Geschlechter. Dann, so ist der Philosoph zu verstehen, erhalten Schulabschlüsse auch wieder eine sinnvolle Gewichtung und Berufe die ihnen zustehende gleichwertige Relevanz.

Zu seinem praktischen Konzept gehört auch, den Schulstoff zu entrümpeln, um Platz zu schaffen für mehr ästhetische, politische und juristische Bildungsinhalte. In einem vernetzten, ganzheitlichen Schulalltag sollen die Sinne geschärft werden für Zukunftsfragen und Freiraum entstehen für ein kognitives Lernen, das auf Gründen beruht und auf Verständigung zielt.

Bücher zum aktuellen Bildungswesen gibt es viele. Aber nur wenige stellen so sinnfällig und noch dazu gut lesbar Probleme in einen umfassenden Kontext wie dieses.

Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung
edition Körber-Stiftung
246 Seiten, 18 Euro


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