César Aira eröffnet Internationales Literaturfestival Berlin

Kleinen und großen Geheimnissen auf der Spur

A picture dated October 15, 2010 shows Argentinian writer Cesar Aira, who presented his book "Festival" at the Buenos Aires International Festival of Independent Film (BAFICI), Argentina, on April 7, 2011.
Der argentinische Schriftsteller César Aira. © dpa/ Ricardo Ceppi
Von Tobias Wenzel · 07.09.2016
Mit einer bewusst unpolitischen Rede hat der argentinische Star-Autor César Aira gestern Abend das Berliner Literaturfestival eröffnet. Er sorgte spielerisch für Verwirrung, sprach über Schreibprozesse und den ewigen Drang besser zu werden.
César Aira spaziert gemächlich und genüsslich rauchend durch einen Park im Berliner Stadtteil Schöneberg. Die einzige freie Bank ist defekt. Die vorderen zwei Holzleisten fehlen. Aber das hält den argentinischen Schriftsteller nicht davon ab, sich auf die Bank zu setzen. Spaziergänger und Jogger sind zu sehen, Rufe von Kindern und Vögeln zu hören. Ein Park eben. Aber César Aira spürt gerade dort, wo andere nichts Besonderes ausmachen, das Merkwürdige, das Rätselhafte auf:
César Aira (Übersetzer: Christian Hansen): "Gerade vor kurzem habe ich mich etwas gefragt, was sich bestimmt sonst niemand fragt: Warum fliegen Vögel? Und warum fliegen sie so viel? Klar, manchmal suchen sie Futter. Aber dann ziehen sie einfach nur Kreise in der Luft. Wozu? Treiben sie etwa Sport? Fragen wie diese inspirieren mich, zum Beispiel zu einer Erzählung."

Unpolitische Rede in diesem politischen Festival

César Aira überrascht in seinen Büchern, er spielt mit dem Leser und irritiert ihn. Er ist den kleinen und auch großen Geheimnissen der Welt auf der Spur. Und genau da setzte er am Mittwochabend in seiner Rede an, mit der er das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnete. Eine vollkommen bewusst unpolitische Rede in diesem stark politischen Festival. Ein Lob des Rätselhaften beginnend mit dem Blick in die eigene Kindheit:
"Ich erinnere mich, dass ich einmal in einer Zeitschrift auf eine Werbung für Seife stieß, von der behauptet wurde, neun von zehn Hollywoodstars würden sie benutzen. Ein Gefühl der Entrüstung stieg in mir auf angesichts der Grausamkeit, mit der jene Werbetexter die arme Frau, die Nummer zehn, auf diese Weise bloßstellten, sie so öffentlich und zugleich so heimtückisch denunzierten. [...] Im Kino versuchte ich zu erraten, um welche der Schauspielerinnen es sich handelte, versuchte jenseits der Rolle, die sie darstellte, ihre wahre rebellische Persönlichkeit zu erkennen."
César Aira identifizierte sich mit dieser Unbekannten, mit der einen, die aus der Masse herausragt. Bald sei er, das Kind aus einem Dorf bei Buenos Aires, vom Lesen fasziniert gewesen. Und vom Schreiben. Fast jeder Schriftsteller schreibe von Natur aus gut, lautete eine kuriose These seiner Rede, bei der man nicht so ganz wusste, ob er das wirklich ernst meinte oder einmal mehr spielerisch Verwirrung stiften wollte, indem er einfach alles mit umgekehrten Vorzeichen versah:

"Um dagegen schlecht zu schreiben, muss der Schriftsteller diese Mechanismen durchdrungen haben, um gegen sie anarbeiten zu können und wenn er das tun will, wird er eine heroische Beharrlichkeit und Hellsichtigkeit besitzen müssen. [...] Das ist der Grund, warum es so wenige schlechte Schriftsteller gibt und sie für so viel Aufsehen sorgen, wo sie sich blicken lassen, was diese schwanenhaften, komischen Käuze selten tun, da sie Experten im Verbergen sind."

"Je besser wir schreiben, desto schlechter geht es uns"

César Aira selbst – das durfte man ihm getrost glauben – will mehr als nur ein guter Schriftsteller sein. Er wolle kontinuierlich besser werden. Aber das sei oft ein geradezu masochistisches Unterfangen:
"Warum quälen wir uns so? [...] Wer befiehlt uns, besser schreiben zu wollen? Warum schreiben wir keine ganz normalen Romane wie alle anderen auch? [...] Es ist eine wachsende Verpflichtung, die einen Teufelskreis erzeugt. Je mehr sich das Leben verschlechtert, desto mehr müssen wir tun, um es im Werk zu erlösen. Und je besser wir schreiben, desto schlechter geht es uns, denn über der Arbeit verlieren wir immer mehr Glücksgelegenheiten und wie im Wettlauf von Achill und der Schildkröte holt das Bessere das Schlechtere nie ein."
Letztlich stehe im Zentrum des Schreibens die Zeit, gegen die der Mensch vergeblich ankämpfe, sagte der argentinische Autor schließlich nicht ohne ein wenig Melancholie in seiner klugen, unpolitischen Rede.
Politischer wurde es danach beim Berliner Beitrag zur "Weltweiten Lesung für Demokratie ohne Populismus". Zitate von Max Weber über "Unsachlichkeit" und "Verantwortungslosigkeit" als "Todsünden" des Politikers und George Orwells Worte über den Nationalisten, der vernünftige Argumente nicht an sich heran lässt, erinnerten an den jetzigen Populismus in Europa. Auch Hannah Arendts Gedanken zu den "Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaft" klangen alarmierend aktuell: "Die Form der unfehlbaren, allwissenden Voraussage."
Wer das hörte, konnte auch froh sein über die vielen neugierigen Festivalbesucher am Eröffnungstag. Und über jemanden wie César Aira, der nie auf die Idee käme, sich selbst als allwissend zu bezeichnen. Und der Fragen stellt wie: Warum fliegen Vögel?