CD-Box "The Men In The Glass Booth"

Hommage an die Disco-Ära

Menschen feiern am 28.08.2016 auf dem RAW-Gelände in Berlin im Club Cassiopeia.
In den 70ern bedeutete Disco Freiheit - und eine scharfe Abgrenzung zur Rockmusik. © dpa / picture alliance / Sophia Kembowski
Von Klaus Walter  · 24.01.2017
"The Men In The Glass Booth" erzählt auf drei CDs, wie sich DJs in den 70ern von Musik-Dienstleistern zu eigenständigen Künstlern entwickelten. Eine Entwicklung, die mit der Erfindung der 12-Inch-Maxi-Single in Gang kam.
Aufstehen, den Groove spüren, Hände in die Luft und tanzen – so sieht sie aus, die "Disco Scene", hier besungen von einer vergessenen Gruppe namens Lake Shore Drive. Wir sind im Jahr 1976 und die Popwelt ist gespalten: hier die Fans von diesem schillernden neuen Ding namens Disco – dort die Bewahrer des soliden Rock-Handwerks und der Tradition. Für Freunde der Rockmusik ist Disco die Musik des Teufels, affektiert, artifiziell, effeminiert, kommerziell.
"Let me be your fantasy” fordert das Love Symphony Orchestra, lass mich deine Fantasie sein, ein sprechender Titel und ein sprechender Gruppenname: Das Sinfonie Orchester der Liebe. Disco ist eine Fantasiewelt, ein Sehnsuchtsort, ein Traumziel für Leute, die dem Alltag entfliehen wollen. Disco verspricht Freiheit im Tanzen.

Disco bot plötzlich eine freie Umgebung

"My love is free” singen Double Exposure 1976, aber ihre freie Liebe ist eine andere als die freie Liebe der Hippies in den späten Sechzigern. Disco ist ein Freiraum auch für Leute, die jenseits der Heteronorm leben und lieben.
Jellybean Benitez: "Es ist eine Umgebung, in der Leute sich frei ausleben können, es ist kulturell vielfältig, Schwarze, Weiße, Asiaten und Hispanics, Hetero und Schwullesbisch, Jung und Alt, es gibt Drag Queens und Zirkustänzer, sie bringen Trillerpfeifen mit, Tambourine, Trommeln… es ist ein Ort, wo Leute wirklich frei sein können."
Sagt Jellybean Benitez, DJ seit den Siebzigern und einer von den Männern in der Glaskabine: "The Men In The Glass Booth” erzählt auf drei CDs oder fünf LPs die Geschichte der einflussreichsten DJs der Disco-Ära. Und es ist eine klassische Vorher-Nachher-Geschichte: Vorher, also bis tief in die 1970er ist der DJ eine lebende Jukebox und reiner Dienstleister. Nachher ist der DJ eigenständiger Künstler, ein Musiker ohne musikalische Ausbildung. Als DJ geht er rein ins Tonstudio und geht wieder raus als: Remixer. Remixer wie Jellybean Benitez.
"Meine Aufgabe als Remixer bestand darin, eine Platte zu erschaffen, die für den Dancefloor geeignet ist, ohne den eigentlichen Song zu zerstören. Also bleiben Text und Melodie erhalten, aber das Rhythmus-Arrangement ist völlig anders. So entwickelten sich Songs zu eigenständigen Clubhits."

Tiefgreifender kultureller Wandel

Und diese eigenständigen Clubhits haben ihr eigenständiges Medium: die Maxi-Single. Noch so eine Vorher-Nachher-Geschichte: Vorher behelfen sich DJs mit handwerklichem Geschick. Um die rhythmischen und perkussiven Parts eines Songs zu betonen und zu verlängern, mischen sie zwei Exemplare eines Songs auf zwei Plattenspielern. Nachher veröffentlichen sie diese verlängerte Fassung auf einer 12-Inch-Maxi-Single – eine extended Version von einem einzigen Song auf einer ganzen Plattenseite. Das heißt: bessere Klangqualität, mehr Drums und mehr Bass, längere Tracks für den Dancefloor. Die technische Innovation bringt einen tiefgreifenden kulturellen Wandel mit sich – die Entstehung der DJ Culture.
"Wow!", sagt der DJ-Veteran Tony Smith. "Wir kaufen nur diesen einen Song, wir brauchen nicht das ganze Album. Das war Walters Erfindung. Walter Gibbons kam auf die Idee, die 12-Inch-Maxi-Single auf den Markt zu bringen. Vorher wurden lediglich ein paar Promotion-Exemplare an einzelne DJs verteilt."

Viele starben an ihrer sexuellen Freiheit: AIDS verbreitete sich

Double Exposure, Ten Per Cent, 1976 die erste Maxi-Single auf dem freien Markt, im rhythmusbetonten Mix von Walter Gibbons.
Walter fängt einen Track schon mal mit einer Kuhglocke an oder mit Congas, er nimmt sich die Freiheit und öffnet Türen – so würdigen Tony Smith und Danny Krivit die Pionierarbeit ihres Kollegen Walter Gibbons. Der kann selbst nicht mehr darüber sprechen. Walter Gibbons ist 1994 an den Folgen von AIDS gestorben.
Noch so eine Vorher-Nachher-Geschichte: Vorher sind die New Yorker Clubs eine Oase der Freiheit, auch der sexuellen Freiheit. Dann kommt diese neue Krankheit und plötzlich gehen dieselben Leute, die vorher drei Mal die Woche Parties feiern, zwei Mal die Woche zu einer Beerdigung. "The Men In The Glass Booth” erzählt auch diese Geschichte: Denn die Männer in den Glaskabinen waren tatsächlich ausschließlich Männer und viele davon waren Männer, die Sex am liebsten mit Männern hatten.
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