Carsten Stroud: "Der Aufbruch"

Horror ohne jede Erklärung

Ein Junge sitzt mit einem Laptop auf seinem Bett und hat die Hände vor das Gesicht geschlagen.
In 'Niceville' geschehen so grausame und abstruse Sachen, dass der geneigte Leser vergnügt schockiert sein darf. © picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Von Thomas Wörtche · 19.01.2016
"Der Auftruch" - so heißt der letzte Teil von Carsten Strouds Triologie über die Kleinstadt Niceville. Darin mischt der Autor Elemente der Genres Thriller, Horror, Fantasy und historischer Roman. Das alles ist dann auch noch extrem unterhaltsam und vergnüglich.
"Der Aufbruch" ist der abschließende Band von Carsten Strouds "Niceville-Trilogie" (nach "Niceville" und "Die Rückkehr"). Diese Trilogie ist ein bemerkenswertes Beispiel für "genre crossing": Elemente von Kriminalroman, Horror, Fantastik und historischem Roman werden von Stroud geschickt und organisch zu einem großen Narrativ über midtown-America kombiniert, das sich vor allem für die historische Tiefendimension interessiert, die bis zu ursprünglichen Bewohnern, den Native Americans reicht. Denn in Niceville ist die Zeit durchlässig.
Menschen, die – auch im Verlauf der Trilogie – gestorben sind, mischen sich plötzlich wieder unter die Lebenden, als sei nichts geschehen. Nur ihr Spiegelbild ist verschwunden, ihr Appetit auf eine Zigarette oder einen anständigen Drink hingegen nicht.
Niceville - eine Stadt im idealtypischen Süden
Über Niceville, irgendwo im idealtypischen Süden der USA erhebt sich ein schroffe Felswand, Tallulah´s Wall, und dort eingelassen eine tiefe, mit Wasser gefüllte Senke, Crater Sink. Dort haust, seit uralten Zeiten, eine indianische Rabenspötter-Dämonin (die zum Mythenkreis der Cherokee gehört), Kalona Ayeliski genannt. So geht wenigstens die Sage.
Und Niceville hat die höchste Vermisstenquote des Landes. Hunderte von Menschen verschwinden plötzlich, manche tauchen Jahre oder Jahrzehnte später plötzlich geistig ziemlich verwirrt, aber ansonsten unversehrt wieder auf. Dass da etwas nicht geheuer ist, wissen die Menschen von Niceville, dennoch leben sie ihr Leben, als Mafioso, als Bankräuber, als Polizist, Rettungssanitäter, Teenager oder Pensionär.
Zunehmend geraten die Dinge aber in Bewegung. Es scheint, als niste sich in den Köpfen mancher Menschen, ob jung oder alt, schwarz oder weiß, eine merkwürdige Entität ein, ein Flüstern treibt sie zu entsetzlichen Slasher-Taten. Andere scheinen immun zu sein, wieder andere können das Flüstern mit Musik von Fréderic Chopin (Anlass für hübsche Scherze) bekämpfen. Auch die poröse Zeit scheint irgendwie mit diesen Ereignissen in Zusammenhang zu stehen.
Die Gegenspielerin der Dämonin siedelt in der Ära der Großen Depression, so könnte man einen Strang der Handlung verstehen. Aber was ist Schein, was Magie, was Realität? Selbst in manchen Subplots, die ganz und gar in der sehr robusten Realität angesiedelt scheinen, so wie die Geschichte vom größten Geldraub aller Zeiten in Niceville, haben Bezüge zum Numinosen und Irrealen.
Strouds Roman ist eine Art Horrorgeschichte - plus hardboiled-Handwerk vom Feinsten
Strouds Erzählton dagegen ist lakonisch und sarkastisch, völlig diesseitig. Er erzählt die ungeheuren Ereignisse kühl, ohne mit der Wimper zu zucken, manchmal erfreulich komisch. Die Atmosphäre schwankt zwischen biederer, manchmal auch brutaler Normalität und schwärzester Bedrohlichkeit, Horror- plus hardboiled-Handwerk vom Feinsten. Die Reservoire der Populären Kultur sind unerschöpflich.
Das Schönste aber: Am Ende verzichtet Stroud auf irgendeine plausible "Aufklärung", was man als leicht frustrierend empfinden könnte, wenn er damit nicht gleichzeitig jede symbolische oder sonst wie überhöhende Auslegung verweigern würde. Er führt lediglich extrem unterhaltsam und vergnüglich vor, welch im Grunde unbehagliche Konstruktion unsere "Realität" ist, ganz nach Hamlet, 1. Akt, 5 Szene: "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt".

Carsten Stroud: "Der Aufbruch"
Deutsch von Daniel Hauptmann
DuMont, Köln 2015
541 Seiten, 24,99 Euro

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