Carl-Andre-Retrospektive in Berlin

Betonstelen, Holzpfeiler und Metallquadrate

Die Skulptur "Cedar Scatter" aus Rot-Zeder-Balken des US-amerikanischen Künstlers Carl Andre ist am 04.05.2016 in der Ausstellung "Carl Andre: Sculpture as Place, 1958-2010" im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen.
Carl Andres Skulptur "Cedar Scatter" aus Rot-Zeder-Balken in der Ausstellung "Carl Andre: Sculpture as Place, 1958-2010" im Hamburger Bahnhof in Berlin © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Barbara Wiegand · 04.05.2016
In den 60er-Jahren schuf Carl Andre mit seinen Holz- und Metallskulpturen Meilensteine des Minimalismus, die ihn zum Star der New Yorker Kunstszene machten. Seit 1985 wurde die Karriere des US-Künstlers überschattet von einer Anklage wegen Mordes. Nun ist im Hamburger Bahnhof in Berlin eine umfangreiche Retrospektive zu sehen.
Er ist so unspektakulär wie grandios: der Blick vom Foyer des Hamburger Bahnhofs über die große historische Halle. Denn was unter dem im hohen Bogen geschwungenen Stahlgerüst aufgebaut wurde, ist keine große Intervention, wie man sie hier schon öfter erlebt hat. Die Kunst scheint sich vielmehr dem Raum anzupassen – und macht doch etwas mit ihm. Die kleinen Betonstelen, aufgereiht vor dem großen Glasfenster, die Holzpfeiler im Zentrum und davor, wie ein kühler Teppich, im Quadrat verlegte Bodenplatten aus Metall – in ihrer strengen und doch locker luftigen Anordnung setzen diese Skulpturen Akzente und geben den Rhythmus vor.

Schachbrett aus Kupfer und Blei

Nach dem immer gleichen und doch leicht variierten Muster reihen sich hier schimmerndes Aluminium, rot glimmendes Kupfer stumpfes Blei schachbrettartig aneinander. Zu schön zum drüber laufen eigentlich – und doch: Betreten ist erlaubt.
"Das, was Carl Andre berühmt gemacht hat, sind die Skulpturen, die letztlich Platten sind die auf dem Boden liegen, als seien sie eine natürliche Fortsetzung von Bürgersteig, von Boden überhaupt. Und es ist wunderbar zu beobachten auch heute noch, wie das Publikum zunächst reagiert. Es nähert sich den Skulpturen vorsichtig, dann schaut es sich um: Darf man draufgehen, weil keine Umzäunung da ist? Und es ist ein Herantasten, ein Umschreiten auch in einem Raum. Und das ist, was zum Werk von Carl Andre dazu gehört."
Sagt Udo Kittelmann. Der Direktor des Hamburger Bahnhofs beschäftigte sich schon 1989 in seiner ersten Ausstellung am Münchner Lenbachhaus mit Carl Andre. Fasziniert von diesem Künstler, der mit seinem Charles Manson artigen Rauschebart und langem Haar eine der markanten Figuren der New Yorker Kunstszene und Vorreiter der Minimal Art war. Getreu seinem Wahlspruch, dass gute Kunst nicht ins Auge springen solle. Vielmehr sei sein Werk wie eine Straße – an der man entlang, über die man manchmal auch drüber gehen könne – ohne festen Blickwinkel.

Künstlerische Straße zu den Rieckhallen

Eine künstlerische Straße, die den Besucher des Hamburger Bahnhofs jetzt von der Haupthalle in die angrenzenden Rieckhallen führt. Dort sind die übrigen der gut 300 Skulpturen, Fotos, Schriften, Skizzen des 1935 in Massachusetts geborenen Carl Andre ausgestellt. Locker chronologisch, eher dialogisch geordnet von den End-50er- bis hin zu den 2000er-Jahren, darunter ein grober unbehandelter Holzklotz. Eine Art Meilenstein der Kunstgeschichte, meint Udo Kittelmann:
"Ich setze zwei Künstlerfiguren des 20. Jahrhunderts in eine Folge. Zum einen ist das Brancusi, der der Skulptur noch einmal eine fast künstlerische Form gegeben hat. Er hat versucht, die Skulptur, die auf dem Sockel steht zu einem Kunstwerk zu fassen. Und Carl Andre verzichtet letztlich genau auf diese Aura, die Sockel immer geschaffen hat komplett. Er schafft Gehwege, Mauern. Und die Mauern unterscheiden sich nur dadurch, dass sie mit einer künstlerischen Intention zusammengestellt werden."
Passend zu dieser vom Sockel geholten Kunst nutzte Andre gern Alltagsmaterialien. Fotos zeigen Aufnahmen seiner Streifzüge durch die Straßen New Yorks, von Balken, Steinen, die er verwendete. Später bestellte er ganze Wagenladungen Ziegel, die er übereinander schichtete, Kugellager und Plexiglasstückchen, als Scatterpiece am Boden zerstreut, die nebeneinander gelegten Metallplatten.

Ein Schatten liegt auf Andres Werk

"Man platziert die einzelnen Elemente im Raum, sie werden nicht miteinander fixiert. Carl Andre hat seine Arbeiten nie signiert, aber es gibt zu jeder Arbeit ein Zertifikat wo der Titel, die Werkgeschichte und genau die Anzahl und Anordnung beschrieben wird."
Sagt Kuratorin Lisa Marei Schmidt.
Weder zum Aufbau noch zur Eröffnung der Schau wollte der inzwischen 80-jährige Carl Andre kommen – aus gesundheitlichen Gründen. Vielleicht auch, weil er die stille Nische in die er sich zurückgezogen hat nur noch ungern verlässt. Nachdem er des Mordes an seiner Frau verdächtigt und nach dem Freispruch aus Mangel an Beweisen vor allem in US-amerikanischen Museen nicht mehr ausgestellt wurde. Es ist ein Schatten, der bis heute auf Carl Andre liegt. Auf ihm – und damit auch auf seinem Werk?
"Ich finde, das muss man trennen. Ich finde, man muss das Werk distanziert betrachten. Und so tragisch der Fall war, es ist einfach nicht geklärt worden und ich möchte mir nicht anmaßen, das ich weiß, was passiert ist und wie darüber zu urteilen ist."
So sprechen beide, die Kuratorin und auch der Direktor des Museums nicht von einer Rehabilitierung. Eher ist die Carl-Andre-Retrospektive eine Wiederentdeckung für sie. Tatsächlich gehört die persönliche Geschichte des Künstlers dazu – und auch wieder nicht. Wirkt doch seine Kunst, die sich übrigens nach der Tragödie kaum verändert hat, für sich – die Holzblöcke, Ziegelsteine, Metallplatten, die er im und mit dem Raum neu ordnet. Ja, wenn man die mehr als 7000 Quadratmeter Ausstellungsfläche durchläuft, dann wird, Schritt für Schritt, der Titel der Retrospektive erfahrbar: "Sculpture as place!"

Die Ausstellung "Carl Andre: Sculpture as Place, 1958-2010" ist vom 5.5. bis 18.9.2016 im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart in Berlin zu sehen.

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