Campanellas "Sonnenstadt"

Die erste Öko-Utopie

Der Dominikanermönch Tommaso Campanella
Der Dominikanermönch Tommaso Campanella: Gesellschaft mit Arbeit für jedermann und der Sonne als Energiespender © imago / UIG
Von Mathias Greffrath · 21.12.2016
Der Dominikanermönch Tomaso de Campanella entwirft 1602 ein wunderbares Gemeinwesen. Dafür büßt er in vatikanischen Kerkern. Sein Entwurf der idealen, ökologischen Gesellschaft wäre heute realisierbar - unter einer Bedingung, schreibt der Soziologe Mathias Greffrath.
Der technische Fortschritt nimmt kein Ende, aber es herrscht "Vollbeschäftigung", denn die tägliche Arbeitszeit für alle – Manager wie Müllwerker - ist auf vier Stunden herabgesetzt. Exzellente Schulen statten die jungen Menschen mit beruflichen Kenntnissen aus, aber auch mit sozialen, wissenschaftlichen und musischen Fähigkeiten, damit sie die arbeitsfreie Zeit kreativ gestalten können.
Die Infrastrukturen der Produktion sind in Gemeinbesitz. Die soziale Sicherheit fördert postmaterielle Werte: Es wird mehr gesungen, getanzt, gespielt, geliebt. Statussymbole sind unbekannt. Die erweiterte Großfamilie erzieht die Kinder, die Alten dämmern nicht in Hospizen ihrem Ende entgegen. Im Staatswappen prangt die Sonne, deren Energie treibt die Industrie und Landwirtschaft des Gemeinwesens an. Unter dem Dach einer Art pantheistischen Verehrung von Sonne und Erde leben die Angehörigen einer Vielzahl von Religionen friedlich miteinander.

Eine sehr moderne Utopie

Das Ganze steht nicht in einem Grundsatz-Papier rot-grüner Utopisten, sondern im Bericht von der "Sonnenstadt" auf der Insel Tapobrane, den der kalabrische Mönch Tomaso de Campanella 1602 aufgeschrieben hat. Die "Sonnenstadt", das ist die dritte große Sozialutopie in der beginnenden Neuzeit, neben Thomas Morus Utopia und Francis Bacons Nova Atlantis.
Abgesehen von gewissen klösterlichen Zügen ist sie sehr modern. Die polytechnische Erziehung verknüpft montessori-modern Arbeit, Spiel und Bildung: Auf die Mauern der Stadt sind mathematische Figuren, Alphabete, Fauna und Flora, Maschinen gemalt, so dass schon die Kleinsten im Vorübergehen lernen, wenn sie nicht gerade in den Werkstätten der Schreiner, Schmiede und Bäcker spielen.
Zeitreichtum und Bildung haben dazu geführt, dass die Bürger häufig die Tätigkeiten wechseln und alle an der Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken. Selbst für die Nöte der Sexualität gibt es Abhilfe: Eine Art astrologische Matching-Agentur führt blutleeren Wissenschaftlern feurige Frauen und Handwerkern durchgeistigte Schönheiten zu, und bestimmt dazu noch den günstigsten Zeugungszeitpunkt – damit die Menschheit schöner und klüger werde.
Campanella saß für seinen Vorstoß ins sozialistische Solarzeitalter zwei Jahrzehnte in vatikanischen Kerkern, vor allem natürlich wegen der Ketzerei mit der Sonne.

Auch Realisten sind gefährlich

Utopisten – so hören wir es immer wieder – seien gefährlich: Sie wollten die Menschen zu ihrem Glück zwingen. Nun, die Realisten eines unhaltbaren Status Quo sind ebenso gefährlich, aber vor ihnen wird selten gewarnt. Dabei verdichtet sich die Ahnung, dass die Ordnung, die den Kapitalismus, den Warenverkehr, den Individualismus und den Wohlstand in einem Teil der Welt - auf Kosten der anderen - blühen ließ, dass diese Ordnung zerbricht.
Der Produktivismus stößt an seine ökologischen Grenzen, die Herrschaft des Finanzkapitals, die in Campanellas Zeiten gründet, hat die Nationalstaaten entmachtet. Die Privateigentumsordnung lässt die Reichen überall auf der Welt reicher, die Armen ärmer werden, einem Drittel der Arbeitsbevölkerung droht technologische Arbeitslosigkeit; Millionen von Menschen wandern aus den Armutszonen der Welt aus, das Klima kippt ins Unvorhergesehene, die Seelen suchen nach Halt und finden ihn in radikalen und wirren Religionen.

Campanella ist heute möglich

Eine Gesellschaft mit vier Stunden Arbeit für jedermann, mit einem Bildungssystem, das die Individuen zukunftsfähig macht, eine Weltordnung, die allen Menschen ein Leben ohne Not und Ausgrenzung ermöglicht, die Ausrichtung der Produktion an der Endlichkeit der Erde, die Ersetzung von Mineralöl durch Sonne – steht all das nicht auf der Tagesordnung?
Vierhundert Fortschrittsjahre nach Campanella haben es materiell möglich gemacht, aber es ist utopisch wie eh und je. Nur: Wer hatte denn je erwartet, dass die Mächtigen freiwillig aus der Sonne gehen?

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für DIE ZEIT, die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen u.a.: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Greffrath lebt in Berlin.


Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)© Bild: Imago
Mehr zum Thema