Cäsarenwahn

Von Michael Stürmer · 25.06.2006
Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Diese grausame Weisheit der alten Römer hat bis heute nichts von ihrer Wahrheit eingebüßt. Sie galt für die Mächtigen zu allen Zeiten, und je mächtiger, desto mehr.
"Phenomène de court" – sagen die Franzosen und zucken mit den Achseln – so ist es eben, wenn die Machthaber die Wahrheit nicht vertragen. In Diktaturen ist die Realitätsverweigerung, wie zahlreiche Beispiele zeigen, Teil des Systems. In Demokratien dauert der Prozess der Selbstabschließung in der Regel etwas länger.

Im Falle von Saddam Hussein war diese Blindheit, wie immer, selbstverschuldet. Sie lag in seiner Natur, aber auch in der Funktionsweise seiner Gewaltherrschaft. Saddam war sein eigener schlimmster Feind, denn er sorgte dafür, dass er in einer Scheinwelt anhaltender Erfolge lebte, glänzender Entwicklungen und wahrheitsliebender Gefolgsleute. Wenig oder nichts davon stimmte. Seine Schreckensherrschaft schnitt sich selbst ab von der Wirklichkeit. Gefiel die Botschaft nicht, so wurde der Bote exekutiert, die Familie bekam die Stücke zugeschickt – mit nachhaltigen Folgen für die Wahrheitsliebe der Höflinge. Am Ende kommandierte der Diktator Divisionen, die es längst nicht mehr gab, und vertraute auf Siegsmeldungen, die pure Phantasie waren. Wie weiß man das alles so genau?

Als die Panzer der US-Army Bagdad besetzten, fielen dem Pentagon nicht nur die Akten aus dem Kern des Regimes in die Hände. Es gingen auch hohe Militärs und Diplomaten ins Netz, die bereit waren zu reden. Daraus entstand eine Studie, die wie eine Röntgenaufnahme zeigt, wie eine Diktatur funktioniert oder eben nicht funktioniert. Deklassifizierte Teile daraus finden sich im Mai/Juni Heft der autoritativen Zeitschrift "Foreign Affairs".

Der Blitzkrieg des Frühjahrs 2003 kostete Saddam den Topjob im Irak. Bis zuletzt hatte er geglaubt, Frankreich und Russland würden im Sicherheitsrat verhindern, dass die amerikanische Kriegsmaschine losrollte. Sein Außenminister gar sagte ihm, Moskau und Paris hätten so große Finanzinteressen, dass Krieg schlechthin unmöglich sei. Der Diktator selbst hielt "Regimewechsel" für ausgeschlossen. Im übrigen verließ er sich auf die blumigen Lobreden, die bei jeder Gelegenheit dem Heldenmut seiner Truppen von ihren Kommandeuren gezollt wurden – wer hätte schon gewagt zu sagen, dass die Moral der Truppe noch schlechter war als ihre Ausstattung mit veraltetem Sowjetmaterial? In Saddams eigenen Worten: "Irak wird für die Amerikaner kein Picknick".

Bis zuletzt hat keiner der irakischen Führer geglaubt, die Amerikaner würden jemals Bagdad erreichen. Das war im Übrigen auch der Grund, warum diesmal die Ölfelder nicht in Brand gesetzt, die Brücken nicht gesprengt wurden. Saddam konnte sich sein eigenes Ende schlechthin nicht vorstellen. Um aber später, nach dem Krieg, seine Herrschaft wieder zu festigen und ausländische Freundschaft zu kaufen, würde er Öl brauchen.

Selbst als die amerikanischen Panzer schon aus Kuweit vorpreschten, fürchtete er noch immer interne Revolte mehr als militärische Niederlage. Die Luftwaffe ließ er buchstäblich im Wüstensand vergraben. Britische und amerikanische Kommandeure wunderten sich über die Unbeweglichkeit der irakischen Truppen. Der Grund: Kein Divisionskommandeur durfte ohne Erlaubnis von ganz oben auch nur ein einziges Bataillon bewegen. Die Haltebefehle Saddams galten Einheiten, die längst dahin geschmolzen waren.

Massenvernichtungswaffen? Saddam konnte öffentlich niemals zugeben, dass er keine mehr hatte. Außerdem versicherten ihm seine angstvollen Getreuen immer wieder, wie fabelhaft Forschung und Entwicklung eben dieser Waffen liefen. Saddam einmal nicht begeistert zuzustimmen, wäre Selbstmord gewesen, sagte ein früherer Minister.

Manche Nachrichten dieser Saddam-Saga klingen irgendwie bekannt. Sie erinnern an das "Führerhauptquartier" und den Bunker in Berlin. Schön wäre es indes, wenn solcher Cäsarenwahn nur Diktatoren ergriffe und ihre Höflinge. Aber da bestehen ernsthafte Zweifel. Schlechte Nachrichten sind bei Hofe niemals wohlgelitten, in alten Zeiten und nicht in neueren. Glücklicherweise haben sie nur selten die brutalen Konsequenzen wie im vorliegenden Fall. Stattdessen fallen sie unter das Kapitel Illusion und Wunschdenken.


Michael Stürmer, Historiker und Autor. Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er unter anderem an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, schreibt jetzt für die Welt und die Welt am Sonntag.