Bunte Hamburger Bürgerschaft

Über die Vorzüge "geerdeter" Politiker

Von Axel Schröder · 06.06.2016
Teilzeitpolitiker – das ist im Hamburger Stadtparlament zum Erfolgsmodell geworden. Dort ist eine bunte Mischung an Berufen vertreten, vom Blumenhändler bis zum Beamten. Die Abgeordneten sind - trotz ihrer Doppelbelastung - nahe dran an den Problemen der Menschen.
Noch stehen die Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft in kleinen Gruppen zwischen den Stuhlreihen im holzvertäfelten und reich verzierten Parlamentssaal. Einige sitzen schon auf den mit grünem Leder bespannten Klappsesseln, sortieren ihre Unterlagen. Andere plaudern mit politischen Mitstreitern und Gegnern, stimmen sich ab. Also muss Carola Veit, die Präsidentin des Hauses, ein zweites Mal zur Glocke auf ihrem Pult greifen:
"Meine Damen und Herren! Dann ist die Sitzung eröffnet. Wir steigen gleich ein in unsere Tagesordnung und beginnen mit der Aktuellen Stunde, wenn Sie Ihre Vorgespräche beendet haben."

Aus dem Feierabendparlament wurde ein Teilzeitparlament

Seit der letzten Bürgerschaftswahl, seit einem Jahr sitzen sechs Fraktionen, insgesamt 121 Abgeordnete im Hamburger Stadtparlament: SPD und Grüne stellen den Senat, die Opposition besteht aus CDU und Linken, der FDP und - neu dazugekommen: der AfD. Vor gerade mal 20 Jahren wurde aus dem Feierabendparlament ein Teilzeitparlament.
Das heißt: Die Abgeordneten sind hier nicht mehr ehrenamtlich tätig, sondern werden fürs Politikmachen bezahlt. Mit einem Bruttolohn von rund 2.700 Euro verdienen sie allerdings sehr viel schlechter als ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin und Bremen. Dass die Arbeit in der Bürgerschaft aber überhaupt vergütet wird, führt dazu, dass - anders als früher - ganz unterschiedliche Berufsgruppen hier zusammensitzen. Das erklärt Parlamentspräsidentin Carola Veit in ihrem Amtszimmer:
"Wir haben tatsächlich eine ganz bunte Mischung an Berufen. Angestellte ebenso wie Freiberufler oder Beamte. Unterschiedliche Ausbildungen, unterschiedliche Altersgruppen, Frauen und Männer - auch relativ gut gemischt."

Politisches Engagement - auch für Geringverdiener

Im alten, ehrenamtlich organsierten Feierabendparlament konnten es sich in erster Linie Besserverdienende leisten, im Hamburger Rathaus Politik zu machen. Seit Einführung der wenn auch geringen Vergütung ist dieses Engagement auch für Geringverdiener vielleicht nicht lukrativ, aber zumindest auskömmlich.
Wer viel verdient und dann - wegen seiner Arbeit im Parlament - auf die Hälfte seiner Einnahmen verzichten muss, verliert mehr Einkommen als diejenigen, die ohnehin weniger haben. Und für die beiden Studenten, die in die Bürgerschaft gewählt wurden, sind die 2700 Euro fast schon ein Traumgehalt. Das Arbeitspensum ist jedenfalls beträchtlich, so Carola Veit:
"Die zeitliche Belastung ist einfach groß. Die Abgeordneten müssen sich zeitlich gut organisieren. Die meisten Abgeordneten sind eben mehrmals pro Woche im Rathaus zu Ausschusssitzungen, zu Arbeitskreisen oder für die Plenarsitzungen."

Pendeln zwischen Blumengroßmarkt und Fraktion

Einer von ihnen ist der Blumenhändler Gulfam Malik. Der gebürtige Pakistaner war sieben Jahre lang für die SPD in der Bezirksversammlung Hamburg-Nord aktiv, bevor er im letzten Jahr in die Bürgerschaft gewählt wurde. Vor allem die Montage, erzählt der 59jährige, seien besonders stressig.
"So um kurz vor drei bin ich auf dem Großmarkt. Viertel vor fünf muss ich im Geschäft sein. Dann verteile ich dort die Ware. Dann fahre ich ins zweite Geschäft. Und bis Mittag, 11, 12 Uhr bin ich voll und ganz beschäftigt. Dann habe ich die Möglichkeit, ein bis zwei Stunden zu schlafen, damit ich pünktlich um fünf Uhr wieder in der Fraktion bin."
Die Grüne Stefanie von Berg bestätigt: Nebenbei kann man die Arbeit in der Bürgerschaft nicht bewältigen.
"Ganz ehrlich!: von Außen betrachtet sind das alles schlimme Tage! Weil sie pickepacke voll sind. Ich rase von Termin zu Termin. Ich habe keinen Dienstwagen und ich muss das alles selber organisieren, muss dann zusehen, wie ich von A nach B komme, wirklich schnell. Immer gehetzt, immer auf dem Weg nochmal schnell telefonieren, schnell noch mal E-Mails checken tatsächlich, weil immer dringende Entscheidungen anfallen. Es gibt ganz schlimme Wochen, das sind die Haushaltsberatungen. Da sind wir dann gerne regelmäßig bei 80 Stunden-Wochen.

Der Beruf gibt den Angeordneten Sicherheit

Wer sein Mandat ausfüllen will, muss an anderer Stelle Abstriche machen. Entweder leiden dann das Familienleben oder Freundschaften oder der Beruf. Immer wieder hat es Debatten darüber gegeben, die Ära des Teilzeitparlaments zu beenden. Dann würden aber dessen Vorteile gleich mit abgeschafft. Der Beruf gebe den Abgeordneten Sicherheit, erklärt die Oberstudiendirektorin Stefanie von Berg. Und Unabhängigkeit:
"Ich empfinde es auch als Luxus, von meinem Mandat nicht abhängig zu sein und jederzeit sagen zu können: Entweder ich steige aus oder ich gehe das Risiko ein, wirklich mein freies Mandat auch auszuüben, eventuell auch mal gegen Linien zu verstoßen, einfach, um nicht im Hintergrund zu denken: Oh, oh, oh, hoffentlich werde ich auch bei der nächsten Listenaufstellung gewählt."

Die "Raumschiff-Gefahr" ist gebannt

Auch der Hamburger Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp hält die Teilzeitpolitik in den Stadtstaaten für ein Erfolgsmodell. Die Wege seien, anders als in Flächenländern, kurz, und gerade die Abwechslung verhindere ein in Vollzeit-Parlamenten weitverbreitetes Phänomen:
"Diese Raumschiff-Gefahr: Man ist nur noch unter seinesgleichen, hat nur noch mit Parlamentariern zu tun, man hat mit Leuten aus Ministerien und Verbänden zu tun. Und das wirkliche Leben entrückt langsam ein wenig. Gar nicht mal, weil die Leute faul oder irgendwas sind, sondern weil einfach auch die Handlungsnotwendigkeiten das so mit sich bringen. Und wenn ich dann ein zweites Standbein habe, wo ich sage: Das ist gar nicht Parlament, dann habe ich, weil es mein zweites Standbein ist, mit anderen Leuten zu tun. Dann macht das natürlich auch was mit der Enge der Verbindung zwischen Gesellschaft und Bürgerschaft.
Die Abgeordneten seien einfach näher dran an den Problemen der Menschen in ihren Wahlkreisen, in ihren Unternehmen, in Schulkollegien oder Blumenläden. Reformvorschläge, wie die Arbeit der Parlamentarier erleichtert werden können, werden auch in Hamburg diskutiert. Zum Beispiel könnte die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter erhöht werden, die den Abgeordneten zuarbeiten.

Wunsch nach einem wissenschaftlichen Dienst

Derzeit darf jeder von ihnen eine Dreiviertel-Stelle mit eigenem Personal besetzen. Denkbar wäre auch, analog zum Bundestag oder den Parlamenten der Flächenländer einen wissenschaftlichen Dienst einzurichten, der den gewählten Vertretern zur Klärung von Fachfragen zur Verfügung steht. Erste, zaghafte Schritte in diese Richtung hat es schon gegeben, so Parlamentspräsidentin Carola Veit:
"Wir haben da zum Teil schon ganz gute Lösungen gefunden. Zum Beispiel, als es um das wirklich komplexe Vertragswerk der Elbphilharmonie ging. Da haben wir als Ganzes, als Parlament gemeinsam externe Experten beauftragt, die uns Gutachten erstellt haben. So dass wir auch neutrale Meinungen, neutrale Hilfestellung hatten. Das ist wie ich finde, ein sehr gutes Instrument, was wir jetzt auch verstetigen wollen. Das kann dann bedarfsgemäß eingesetzt werden."
Trotzdem wird sich auch dadurch das Ungleichgewicht zwischen Senat und Bürgerschaft bei der personeller Ausstattung nicht beseitigen lassen, so der Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp. Auffangen lässt sich das nur dadurch - darin herrscht über Parteigrenzen hinweg Einigkeit -, dass die Bürgerschaftsabgeordneten eine Grundvoraussetzung mitbringen:
"Ich denke, jeder, der hier sitzt, hat ganz viel Idealismus - anders geht das gar nicht. Es ist der Wille, etwas zu tun für Stadt Hamburg, für die Wählerinnen und Wähler. Ja, ich glaube wirklich: mehrheitlich Idealismus."

"Ich will Deutschland etwas zurückgeben"

So sieht es Inge Hannemann von der Partei Die Linke. Woher dieser Idealismus bei ihm kommt, erklärt der Blumenhändler und SPD-Abgeordnete Gulfam Malik so:
"Mein Wunsch und mein Wille ist, von dem, was Deutschland mir gegeben hat, einen kleinen Teil zurückzugeben. Dafür engagiere ich mich politisch. Dass ich die Menschen unterstützen kann. Das ist der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin."
Natürlich gibt es auch Abgeordnete, die die bescheiden vergütete Arbeit in der Bürgerschaft auch als Karriere-Sprungbrett nutzen wollen, die die doppelt oder dreifach vergüteten Posten im Blick haben. Als Fraktionschef, Staatsrat oder Senator. Die meisten aber, so der Projektmanager und CDU-Parlamentarier Michael Westenberger, sind tatsächlich dabei, um die wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Verhältnisse in Hamburg ein bisschen besser zu machen:
"Ich bin mir sicher - egal, wen sie hier fragen: nehmen sie diesen Herrschaften, den Kolleginnen und Kollegen, die hier sitzen, die Mandatsausübung, etwas tatsächlich drehen zu können, bewegen zu können nur für zwei Wochen - sie werden es wie ein kleines Kind das Spielzeug, sie werden es zurückhaben wollen! Es sind manchmal die kleinen Erfolge, die den Antrieb dafür bringen, wieder drei, vier Monate wieder im Apparat, insbesondere auf der Oppositionsbank zu strampeln."
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