Bürgermeisterin in Petrosawodsk

Allein gegen Einiges Russland

Petrozavodsks Bürgermeisterin Galina Schirschina mit Bürgern. Die Oppositionspolitikerin kämpft gegen Widerstand von allen Seiten.
Petrozavodsks Bürgermeisterin Galina Schirschina mit Bürgern. Die Oppositionspolitikerin kämpft gegen Widerstand von allen Seiten. © Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth · 18.08.2015
Die 260.000-Einwohnerstadt Petrozavodsk hat keinen Bürgermeister aus der Kreml-Partei Einiges Russland. Die Menschen wählten vor zwei Jahren Galina Schirschina. Sie ist Mitte 30 und soll jetzt abgesetzt werden - trotz großer Zustimmung in der Bevölkerung.
Montagmorgen. Die öffentliche Planungssitzung der Stadtverwaltung von Petrosawodsk, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Karelien. Bürgermeisterin Galina Schirschina blickt vom Podium in einen riesigen Saal. Etwa 30 Menschen sind da, darunter viele Mitarbeiter. Es geht um die Vorbereitung der Stadt für die Heizsaison. Wie in allen russischen Provinzstädten müssen im Sommer veraltete Rohre überprüft und repariert werden. In Petrosawodsk sei nicht mal die Hälfte der Arbeit getan, sagt der Referent. Und es sei fraglich, ob alle Häuser im Herbst an die Warmwasserversorgung angeschlossen werden könnten. Schirschina verschränkt die Arme vor der Brust, guckt aus dem Fenster. Der Onegasee liegt an diesem Tag trübe und regenverhangen da.
Ein Mann tritt ans Mikrophon. Er wirft der Bürgermeisterin vor, Entscheidungen zu verschleppen. Er ist Abgeordneter des Stadtrates. Schirschina kontert: Die Stadtverwaltung habe alle Arbeit getan und eine Vorlage erarbeitet. Jetzt seien die Abgeordneten am Zug, sie müssten über die Vorlage abstimmen, das solle er doch bitte bedenken.
Es gibt keine weiteren Fragen. Die Bürgermeisterin wünscht allen eine gute Woche und gute Laune. Sie selbst eilt zum nächsten Termin, im Etuikleid, auf hohen Absätzen. Ihr Händedruck ist kräftig. Sie will einen neuen Kindergarten ansehen.
In das Amt kam Schirschina zufällig
Galina Schirschina ist seit zwei Jahren Bürgermeisterin. Seitdem hat sie vor allem mit Problemen zu tun. In das Amt kam sie eher zufällig. Die Kandidatin der Oppositionspartei Jabloko war kurz vor der Wahl von der Teilnahme ausgeschlossen worden. Schirschina war die Reservekandidatin, parteilos. Sie war 34 Jahre alt, eine Psychologin, ohne jede Verwaltungserfahrung. Trotzdem erhielt sie 40 Prozent der Stimmen. Der Kreml-Kandidat bekam nur die Hälfte. Kaum im Amt, strich Schirschina die Feier zu ihrer Amtseinführung. Auch die Neujahrsparty der Stadtverwaltung fiel dem Rotstift zum Opfer. Und Schirschina setzt auf Transparenz. Zusätzlich zu den öffentlichen Sitzungen nimmt sie jede Woche eine Videobotschaft auf. Aber sie hat die Mehrheit des Stadtrates gegen sich. Und den Gouverneur der Republik Karelien. Er wurde von Präsident Putin direkt eingesetzt.
"Mein Leben ist nicht leicht. Wenn ich gefragt werde, ob es leicht ist, als Frau Bürgermeister zu sein, sage ich, es ist kein Unterschied, ob Mann oder Frau. Schwierig ist dagegen, denn Sinn einiger Handlungen nicht zu verstehen, die andere tätigen."
Der Fahrer biegt in einen Hof ein. Nagelneues Spielgerät steht da, Rutschen, Klettergerüste, Wippen. Aber keine Kinder.
"Schauen Sie: Dieser Kindergarten wird nicht eröffnet. Es ist zum Heulen."
Schuld sei die Regierung der Republik Karelien, sagt Schirschina. Die habe längst zugesicherte Gelder aus formalen Gründen wieder abgezogen. Dabei fehlten in Petrosawodsk rund 8.000 Kindergartenplätze.
"Seit ich im Amt bin, eröffnen wir praktisch alle halbe Jahr einen neuen Kindergarten. Und das reicht nicht. Wenn dann auch noch die Regierung der Republik gegen mich arbeitet, wird es noch schwieriger."
Im Kindergarten wartet der Bauunternehmer. Er hat das Gebäude komplett renoviert, nur das Dach ist noch nicht ganz fertig. Geld hat er dafür nicht gesehen. Er könnte die Stadt verklagen. Aber er habe gehört, sie sei auf seiner Seite, sagt der Mann. Bürgermeisterin Schirschina lächelt ihn an.
"Ich bin nicht nur auf Ihrer Seite, ich möchte, dass solche Kindergärten aufmachen!"
Petrosawodsk sieht ungepflegt aus und bleibt vorerst dreckig
Sie werde schon irgendwie Geld beschaffen. Doch wie, das weiß sie noch nicht. Die Stadt ist auf die Zusammenarbeit mit der Regierung der Teilrepublik Karelien angewiesen.
Schirschina fährt zurück ins Büro. Petrosawodsk, einst von Peter dem Großen gegründet, ist eine typische sowjetische Industriestadt. Rund eine viertel Million Einwohner. Die Leninstraße verbindet den Bahnhof und das Gebäude der Stadtverwaltung. Zwischen drei- bis fünfstöckigen Nachkriegsbauten stehen alte Holzhäuser. Viele sind abrissreif. Die Stadt hat wenig Geld, die Republik Karelien im Norden nahe Finnland zählt zu den ärmsten Regionen Russlands.
Trotzdem hat Bürgermeisterin Schirschina als einen ihrer ersten Schritte die Preise für die Nutzung der öffentlichen Busse gesenkt, auf fast die Hälfte. Seitdem führen wieder mehr Menschen Bus. Ihre Gegner sagen, damit treibe sie die Verkehrsbetriebe in den Bankrott.
Ein weiterer Streitpunkt: Die Straßenreinigung. Petrosawodsk sieht im Vergleich zu anderen russischen Provinzstädten ungepflegt aus. Blumenbeete und Rasenflächen sind sich selbst überlassen. Überall sprießt Unkraut. Kaputte Gehwegplatten. Die beauftragte Firma habe vor einem Jahr plötzlich aufgehört, zu arbeiten, sagt Schirschina.
"Wir mussten den Vertrag auflösen. Jetzt sagt die Firma, sie sei bankrott, weil wir nicht gezahlt haben. Sie behauptet, sie habe alle Arbeiten zuverlässig erledigt. Unsere Kommission hat aber festgestellt, dass die Firma nur die Hälfte getan hat."
Der Chef der Straßenreinigung sitzt im Stadtrat – ein Mitglied der Kremlpartei Einiges Russland. Bürgermeisterin Schirschina hat den Auftrag für die Reinigung der Stadt neu ausgeschrieben. Die alte Firma hat dagegen geklagt. Möglicherweise deshalb hat sich keine einzige andere Firma um den Auftrag beworben. Petrosawodsk bleibt vorerst dreckig.
Schirschina läuft zu Fuß in den fünften Stock. Der Fahrstuhl ist ihr zu langsam. Im Treppenhaus hängen Tierfotos. Eins zeigt ein Eichhörnchen im Flug. Ihr Lieblingsbild, sagt die Bürgermeisterin. Sie identifiziere sich damit. Ihr Assistentin legte eine Unterschriftenmappe bereit.
"Julia, mach mir bitte einen Kaffee, einen kleinen wenigstens, sonst halte ich nicht durch. Sie auch? Zwei kleine."
Im Juli hat der Stadtrat das Misstrauen ausgesprochen
Die Bürgermeisterin wehrt sich dagegen, als „Oppositionelle" bezeichnet zu werden. Sie sei einfach für die Menschen da. Und Konflikte könne sie nicht brauchen. Über Präsident Wladimir Putin sagt sie nichts Negatives. Und tatsächlich hat sie Mitstreiter über Parteigrenzen hinweg: Eine ihrer Stellvertreterinnen zum Beispiel ist in der Kremlpartei Einiges Russland. Doch auch sie ist nun ins Visier des Stadtrates geraten. Die Abgeordneten haben ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Stellvertreterposten. Gegen die Ernennung der Frau von Einiges Russland haben sie geklagt. Aus Prinzip, meint Schirschina.
"In der ersten Instanz haben wir gewonnen, in der zweiten verloren. Der Stadtrat hat schon mehrere meiner Kandidaten abgelehnt. Unter den Abgeordneten sind Direktoren von Straßenbaufirmen, von Verkehrsunternehmen, Vertreter von Wohnungsverwaltungen. Es ist doch klar, wen die als meine Stellvertreter haben wollen: Leute, die möglicherweise nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten, sondern Unternehmer-Interessen. Ich werde weiter dagegen klagen, durch alle Instanzen. So etwas kann ich nicht zulassen."
Ein Stockwerk unter Schirschina, im gleichen Büro, sitzt Gennadij Bodnartschuk, der Vorsitzende des Stadtrates. Mit 43 Jahren ist er nur wenig älter als die Bürgermeisterin. Sein Händedruck ist welk. Auch Bodnartschuk ist Mitglied bei Einiges Russland. Er hält Schirschina für unfähig.
"Das Experiment mit einer zufälligen Bürgermeisterin dauert schon zu lange. Ich bin mir nicht sicher, ob Petrosawodsk mit dieser Verwaltung den kommenden Winter überlebt. Die Stadt versinkt im Dreck. Die Bürgermeisterin hört nicht auf den Rat ihrer Stellvertreter, und wir Abgeordneten verstehen ihre Personalentscheidungen nicht."
Im Juli hat der Stadtrat von Petrosawodsk Schirschina das Misstrauen ausgesprochen. Ihr bleiben drei Monate, um zu belegen, dass die Kritik der Abgeordneten unbegründet ist. Gelingt ihr das nicht, wird sie abgesetzt. Außerdem hat der Stadtrat auch noch beschlossen, die Bürgermeisterwahlen ganz abzuschaffen, mitten in der Amtsperiode. Die Einwohner sollen nicht mehr selbst entscheiden, wer ihre Stadt regiert. Der Gang zur Urne fällt künftig weg, das Amt des Bürgermeisters in Petrosawodsk wird ausgeschrieben. Dagegen hat die noch amtierende Bürgermeisterin Schirschina ihr Veto eingelegt – erfolglos. Also eine Entmündigung der Bürger? Keineswegs, meint der Vorsitzende des Stadtrates Bodnartschuk von Einiges Russland.
"Auch in Amerika werden mehr als 40 Prozent der Bürgermeister von den Stadträten gewählt. Und in vielen europäischen Ländern ist das ähnlich. Wir müssen verhindern, dass zufällige Leute das Amt bekommen und die Bewohner zu Geiseln werden."
Doch viele Bürger von Petrosawodsk stehen hinter Schirschina.
Vjatscheslav Orfinskij trägt einen langen weißen Bart. Er ist weit über achtzig, Architekt und Ehrenbürger der Stadt, wohnt in einer kleinen Plattenwohnung der Nachkriegszeit. Orfinskij legt Wert darauf, dass er Schirschina zwar nicht gewählt hat; ihre Arbeit habe ihn aber überzeugt.
"Mir gefällt ihre Kämpfernatur. Mir gefällt, dass sie ehrlich ist. Sie will wirklich etwas verändern."
Um nicht allein für die junge Frau zu werben, hat Orfinskij noch eine Lokalgröße eingeladen: Vladimir Malegin, einen ehemaligen Boxer. Er mag vor allem Schirschinas Art zu kommunizieren.
"Schirschina hat sich in jedem Stadtbezirk von Petrosawodsk mit den Bürgern getroffen. Die Leute haben endlich das Gefühl, dass ihnen jemand zuhört. Denn Schirschina ist offen, sie nimmt Ratschläge an, sie verschleiert nichts."
Jetzt wird sie getadelt dafür, dass die Straßenreinigung schlecht arbeitet. Das ist ungerecht! Der Direktor der Straßenreinigung lacht sich derweil ins Fäustchen und stimmt im Stadtrat gegen sie.
Die Bürgermeisterin gibt sich nicht geschlagen
Die beiden Männer wollen nicht klein beigeben, pochen auf dem Mitspracherecht der Bürger. Immerhin ist Schirschina demokratisch gewählt. Bereits im Frühjahr sind sie auf die Straße gegangen, haben protestiert, gemeinsam mit rund 2.000 anderen Bürgern von Petrosawodsk. Damals waren zwei Vertraute der Bürgermeisterin verhaftet worden: Eine Abgeordnete und eine Unternehmerin. Ihnen wurde Betrug vorgeworfen. Die verhaftete Abgeordnete hat zwei kleine Kinder, ihr Mann fährt zur See. Dass sie trotzdem in Untersuchungshaft musste, hat die Menschen in Petrosawodsk aufgebracht. Inzwischen sind beide Frauen wieder auf freiem Fuß. Orfinskij und Malegin glauben, dass das auch auf den Protest der Bürger zurückzuführen sei.
Malegin: "Tausende Leute sind im April vor die Verwaltung gezogen. Wir haben geklatscht und nicht aufgehört. Autos haben angehalten. Nur Solidarität führt zu etwas."
Orfinskij: "Wir werden nicht aufgeben."
Die beiden Männer fordern einen Runden Tisch. Bürgermeisterin und Stadtrat von Petrosawodsk sollen sich gemeinsam mit Bürgervertretern zusammensetzen und den Konflikt beenden. Der Vorsitzende des Stadtrates, Gennadij Bodnartschuk, ist dazu aber nicht bereit. Es habe schon genug Runde Tische gegeben. Mit dieser Bürgermeisterin könne man nicht reden.
Galina Schirschina ist bereits beim nächsten Termin. Die Jugendfußballmannschaft von Petrosawodsk hat sich für ein internationales Turnier in Moskau qualifiziert.
Schirschina nimmt sich Zeit.
"Ich will euch danken. Weil ihr dafür gesorgt habt, dass der Name Petrosawodsk auf sehr hoher Ebene klingen wird. Das ist euer Verdienst und das eurer Eltern. Ihr seid die besten. Was ihr für Petrosawodsk tut, ist sehr wichtig für die Stadt. Das sage ich euch als Bürgermeisterin."
Sie will sich noch lange nicht geschlagen geben.
"Ich will die fünf Jahre, die die Bürger mir gegeben haben, so abarbeiten, dass ich mich nicht schämen muss. Ich will den Menschen wenigstens ein bisschen geholfen haben. Das ist alles, ehrlich. Vielleicht glauben Sie mir das."
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