Bürgermeister mit zwei Pässen

Ahmed Aboutaleb regiert Rotterdam

Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister der niederländischen Stadt Rotterdam
Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister der niederländischen Stadt Rotterdam © picture alliance / dpa / Bart Maat
Von Claudia Heissenberg · 11.08.2016
Seit 2008 regiert Ahmed Aboutaleb Rotterdam. Damals galt die Wahl des gebürtigen Marokkaners und gläubigen Muslims als Sensation. Dementsprechend hoch und unterschiedlich waren die Erwartungen. Wie sehen ihn die Bürger der Stadt heute?
"Sie sitzen hier dem Bürgermeister von Rotterdam gegenüber, aber es ist nicht zu leugnen und ich will es auch nicht leugnen, dass hier auch ein wütender Muslim sitzt."
Januar 2015: Es ist der Abend nach dem Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschriftschrift "Charlie Hebdo". Ganz Europa steht unter Schock. In der niederländischen Nachrichtensendung "Nieuwsuur" spricht der Rotterdamer Bürgermeister Ahmed Aboutaleb aus, was viele Menschen denken.
"Es ist unbegreiflich, dass Menschen sich so gegen die Freiheit wenden können. Wenn dir die Freiheit nicht gefällt, pack Deine Koffer und geh, vielleicht gibt es irgendwo einen Fleck auf der Welt, wo es Du dich besser fühlst, aber bring nicht unschuldige Journalisten um. Muslime, alle gutwilligen Muslime, werden nun wahrscheinlich wieder verurteilt werden. Wenn es Dir hier nicht gefällt, weil du Karikaturisten nicht magst, dann, lass es mich so sagen: Hau doch ab!"

Held der Woche

"Ein muslimischer Bürgermeister als Held der Woche" titelte am nächsten Tag die deutsche Tageszeitung "Die Welt". Auch viele andere Medien in Deutschland, Belgien, Frankreich, England, der Türkei, den Vereinigten Staaten und sogar in China berichteten. Die niederländische Journalistin und Kolumnistin Hassnae Bouazza, die wie Aboutaleb aus Marokko stammt, war allerdings weniger von den harten Worten des Rotterdamer Bürgermeisters begeistert.
"Ich möchte klar stellen, dass ich den Anschlag auf Charlie Hebdo furchtbar fand, ich habe auch darüber geschrieben und die Tat scharf verurteilt. Aber ein Politiker hat Verantwortung, Aboutaleb kommt selbst aus der marokkanischen Gemeinschaft. Er weiß ganz genau, wie das hier in Holland funktioniert. Er weiß, dass Marokkaner und Muslime immer auf die Taten anderer angesprochen werden. Dass er das nun als Bürgermeister genauso macht, finde ich gemein und auch nicht ehrlich von ihm."
Kurz vor zehn Uhr morgens im historischen Rathaus von Rotterdam, einem wuchtigen Monumentalbau mit Glockenturm und breiten Fluren. Bürgermeister Ahmed Aboutaleb - mittelgroß, mittelschlank, dünnrandige Brille, grau-meliertes, kurz geschnittenes Haar - strahlt die routinierte Freundlichkeit eines Politikers aus, ist gleichzeitig sehr distanziert.
Die halbe Stunde Interview wurde erst nach zähen Verhandlungen gewährt, dazu das Angebot, den viel beschäftigten Bürgermeister am Abend zu einem Termin zu begleiten. Seit Januar 2009 ist Aboutaleb, der die marokkanische und die niederländische Staatsbürgerschaft besitzt, Stadtchef von Rotterdam - und damit der erste Muslim in einem solchen Amt in Europa.
"Ein Bürgermeister sitzt den Bewohnern dicht auf der Pelle, und die Bewohner sitzen dem Bürgermeister dicht auf der Pelle. Heute Abend, zum Beispiel, treffe ich mich im Westen von Rotterdam mit einer Gruppe von Anwohnern. Das ist meine Art, die Dinge anzugehen, ich suche die Leute auf und wir schauen zusammen, wie wir ein Stadtviertel sicherer und lebenswerter machen können. Den Alltag der Menschen verbessern zu können, das finde ich schön, und dann schlafe ich auch gut. In meinen Augen ist er ein sehr guter Bürgermeister, einer, der die Bürger ernst nimmt und ihnen zuhört. Und wenn es Probleme gibt, sucht er nach einer Lösung, nicht nur für die Marokkaner. Zuerst dachten wir, dass er nur für die Marokkaner da sein würde - aber er ist für jeden Bürger da, egal, wer oder was Du bist."
Rob Kok, der einst bei der Luftwaffe diente, arbeitet seit knapp fünf Jahren als sogenannter Stadtteilhausmeister in Oud-Mathenesse, einer schmucklosen Wohngegend im Westen Rotterdams. In den tristen Mietshäusern aus den späten 70er-Jahren leben vor allem alte Menschen, neben wenigen jungen, die gerade ins Berufsleben starten, dazu viele Polen und Bulgaren. Etliche von ihnen sind verschuldet – oder im alter vereinsamt.
"Vor ein oder zwei Wochen habe ich bei ein paar Leuten vorbeigeschaut, die etwas Zuspruch brauchten. Ältere Menschen, die ihren Partner verloren haben und andere, die gerade in Schwierigkeiten steckten. Ich habe ein kleines Budget, davon habe ich ein paar Blumensträuße gekauft. Die Leute waren so froh und glücklich über diese kleine Aufmerksamkeit; eine bekam sogar eine Gänsehaut vor lauter Rührung. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie Blumen geschenkt bekommen. So was gibt es in diesem Vierteln."
Rob Kok macht Hausbesuche, organisiert Aufräumaktionen und vermittelt im Konfliktfall zwischen Bewohnern, Immobiliengesellschaft und Behörden. Er hat eine Internetseite für das Viertel eingerichtet, auf der die Anwohner sich austauschen können.
"Wenn man etwas verbessern will, muss das zusammen mit den Menschen aus dem Viertel gemacht werden. Wenn es von vorneherein heißt, ihr lebt im Problemviertel und ich helfe Euch jetzt, dann ist das nicht gut. Genauso das Wort Ausländer, das ist auch so gruselig. Wir nennen sie neue Rotterdamer. Und Problemviertel heißen bei uns Aufmerksamkeitsviertel. Das klingt doch viel freundlicher. Ja, dieses Viertel bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Das finden die Bewohner auch."
Die Aufmerksamkeit von Ahmed Aboutaleb ist rund den 30 Bewohnern von Oud-Mathenesse heute Abend sicher, wenigsten für die zwei Stunden seines Besuchs. Der Bürgermeister ist zu Gast bei "Buurt bestuurt", was übersetzt soviel heißt wie "das Stadtviertel gibt die Richtung vor". Ein Treffen, bei dem Anwohner, Polizei und Stadtverwaltung gemeinsam entscheiden, welche Probleme wann und wie angegangen werden sollen. Ahmed Aboutaleb hängt sein Jackett über die Stuhllehne und setzt sich hemdsärmelig in die Runde; die beiden Sicherheitsbeamten, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten, warten diskret vor der Tür.
"Da Sie schon mal hier sind, wollen wir bei 'Buurt bestuurt' auch von der Gelegenheit Gebrauch machen, ein Resümee zu ziehen und zu fragen: Was ist gut gelaufen, was ist in Ordnung, was könnte besser laufen und was klappt noch gar nicht? Wir beginnen aber wie immer mit dem Polizeibericht."

Verantwortlich für die Sicherheit der Stadt

Bei der Stadtteilpolizistin Marsha steht heute nur wenig auf der Liste. Keine Überfälle, keine Wohnungseinbrüche, nur ein paar aufgebrochene Autos in einer Tiefgarage, ansonsten war alles ruhig. Auch Aboutaleb, als Bürgermeister verantwortlich für die Sicherheit in der Stadt, hat nur gute Nachrichten zu vermelden. Laut Statistik hat sich die Zahl der Raubüberfälle seit 2011 mehr als halbiert; Einbrüche gibt es ein Drittel weniger.
"Die Sicherheit in Oud-Mathenesse und auch in ganz Rotterdam ist eigentlich okay, natürlich passiert hier und da was, aber dafür sind wir auch eine Weltstadt. Anders ist das mit dem Sicherheitsgefühl. Die Zahl der Straftaten sinkt zwar, aber die Menschen fühlen sich trotzdem unsicher."
Das Bahnhofsviertel, früher in der Hand von Drogenhändlern und Kleinkriminellen, strahlt nach jahrelangen Baumaßnahmen inzwischen in neuem Glanz. Moderne Bürogebäude mit Spiegelfassaden, schicke Läden, Restaurants und Cafés verströmen aufgeräumtes Großstadtflair.
Rotterdam ist nach Amsterdam die zweitgrößte Stadt der Niederlande. Früher lebten die Rotterdamer vom Hafen – dem größten Europas. Heute haben Maschinen die Menschen ersetzt. Die Millionen, die mit den Frachtschiffen aus aller Welt erwirtschaftet werden, landen bei multinationalen Unternehmen. Die Arbeitslosenquote ist seit Jahren fast doppelt so hoch wie im restlichen Land. Mehr als die Hälfte der 630.000 Einwohner hat einen Migrationshintergrund.
"Einige erwarten von mir Sonderkonditionen und die verweigere ich. Aber ich bin auch sehr sanft zu den Menschen. Ich bin sehr dafür, in Bildung zu investieren. Allerdings bin ich unglaublich hart zu jedem, der über die Stränge schlägt, während ich ordentlichen Bürgern gerne die Hand auf die Schulter lege, wenn sie es schwer haben."

An allen Ecken und Enden muss gespart werden

Rotterdam ist arm und die Kassen sind leer; an allen Ecken und Enden muss gespart werden. Es gibt viele Viertel mit hoher Arbeitslosigkeit; in Feyenoord, wo nicht nur das Fußballstadion sondern auch die größte Moschee des Landes steht, sind knapp 70 Prozent der Bewohner Einwanderer.
Blick auf die Erasmusbrücke in Rotterdam
Blick auf die Erasmusbrücke in Rotterdam© dpa / Marco De Swart
Sie verfügen in der Regel über weniger Einkommen und Wohnraum, sind schlechter ausgebildet, häufiger arbeitslos und kriminell. Vor allem marokkanische Jugendliche und junge Männer zwischen 12 und 25 Jahren sind in der Kriminalitätsstatistik seit Jahren überrepräsentiert.
"Aber die marokkanischen Jungen, die haben auch keine Arbeit, keine Ausbildung. Zum Beispiel meine Tochter. Die hat 33 Briefe geschrieben für ein Praktikum – und bekam zwei Antworten. Auf 33 Bewerbungen, ich habe die Briefmarken geklebt. Manche kriegen überhaupt keine Antwort. Versuch mal, Dich zu bewerben, wenn Du Mohammed heißt. Da wirst Du noch nicht mal eingeladen, das ist auch bekannt. Ja und die Jungens, die hängen auf der Straße rum, was sollten sie machen? Jugendzentren gibt es nicht mehr, sie gehen nicht mehr zur Schule, haben keinen Job, kein Praktikum, ja."
Mohammed El Joghrafi arbeitet seit seiner Pensionierung ehrenamtlich in einem Bürgerzentrum. Wie Aboutaleb stammt er aus Marokko und ist Mitglied der Arbeitspartei. Früher war er Maschinenbauer in einem großen Betrieb in der Nähe des Hafens. Heute hilft er Menschen bei Anträgen auf Sozialhilfe oder Rente und beschäftigt eine Menge junger Leute als Praktikanten, um sie von der Straße zu holen.
"Ich stelle fest, dass immer mehr Menschen zu mir kommen, weil sie mit der Miete im Rückstand sind oder Mahnungen bekommen haben, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen. Da werden aus 40 Euro schnell fünf-, sechshundert Euro. Andere können ihre Krankenversicherung nicht bezahlen. Also die Leute haben hier wirklich finanzielle Probleme."
Der Bürgermeister weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, arm zu sein. Dennoch ist er davon überzeugt, dass jeder aufsteigen kann, wenn er sich nur anstrengt. Darum fordert er Migranten auf, die niederländische Sprache zu lernen, hart zu arbeiten und ihre Kinder in die Schule zu schicken, statt sich, wie er sagt, immer nur zu beklagen.

Eltern von Schulschwänzern wird Kindergeld gestrichen

Wer sich nicht daran hält, dem wird in Rotterdam nachgeholfen: Eltern von Schulschwänzern wird das Kindergeld gestrichen. Wer keinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz gefunden hat, muss den Job nehmen, den das Arbeitsamt anbietet. Wer sich weigert, verliert den Anspruch auf Arbeitslosengeld.
"Ich habe natürlich Befugnisse als Bürgermeister, die manchem nicht gefallen. Ich bin unwahrscheinlich hart in Sachen Kriminalität, hart, wenn Gesetze und Regeln nicht befolgt werden, hart in puncto Koffeeshops. In diesen Kreisen verkehren leider auch Marokkaner und die finden mich lästig."
Als gütiger, aber strenger Bürgervater, so präsentiert sich der 54-Jährige am liebsten. Auf jede E-Mail antwortet er bis heute persönlich, wenn es sein muss, auch am Wochenende.
Gestern, so erzählt er, war er erst gegen neun Uhr abends zuhause und heute bei "Buurt bestuurt" wird es noch später werden. In Rotterdam sind die meisten Kritiker inzwischen verstummt. Ende 2014 wurde der strenge Muslim mit großer Mehrheit für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt. Die Journalistin Hassnae Bouazza würde sich von ihrem Landsmann allerdings wünschen, dass er die Beziehung zwischen Niederländern und Marokkanern nicht problematisiert sondern normalisiert.
"Vielleicht sieht er sich selbst als Brückenbauer. Er könnte auch einer sein, aber er ist es nicht. Denn er profiliert sich auf Kosten der marokkanischen Gemeinschaft. Wenn man Vertrauen schaffen will, dann muss man die Gemeinsamkeiten verstärken und nicht Misstrauen schüren. Und man sollte nicht ins das Geheule einstimmen: Sie müssen sich distanzieren, sonst taugen sie nichts, sie müssen mitdemonstrieren, sonst taugen sie nichts und sollen abhauen. Nein, ich denke nicht, dass er damit wirklich einen positiven Beitrag geleistet hat, außer vielleicht für sich selbst: Weil er dann als der Marokkaner gesehen wird, der was taugt."
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