"Büchner würde heute sicherlich vom Verfassungsschutz verfolgt werden"

Burghard Dedner im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 17.10.2013
Der Schriftsteller Georg Büchner gilt als einer der wichtigsten Denker in der Zeit vor der deutschen Märzrevolution 1848. Einige seiner politischen Forderungen sind auch heute noch ziemlich radikal, sagt der Büchner-Forscher Burghard Dedner - beim Thema Vermögenssteuer wird das deutlich.
Stephan Karkowsky: Georg Büchner wurde nur 23 Jahre alt, aber bis dahin hat er eine Menge geschafft: 700 Seiten Texte, dazu eine erfolgreiche Promotionsschrift in Philosophie. Er wurde vom Großherzogtum Hessen steckbrieflich gesucht, und er gilt bis heute als einer der wichtigsten Revoluzzer des Vormärz, also dieser unruhigen Jahre vor der deutschen Märzrevolution 1848.

Büchner wurde heute vor 200 Jahren geboren – da darf man schon mal fragen, warum er uns heute überhaupt noch interessiert. Mein Gesprächspartner hat da klare Antworten drauf, er ist der Projektleiter der gerade abgeschlossenen Büchner-Gesamtausgabe, Professor Burghard Dedner von der Philipps-Universität Marburg. Herr Dedner, guten Morgen!

Burghard Dedner: Guten Morgen!

Karkowsky: Büchner war nur fünf Jahre älter als Karl Marx. Hätte denn auch aus Büchner ein glühender Sozialismustheoretiker werden können, also einer, der die Massen mitreißt? Was glauben Sie?

Dedner: Ein ganz frühes Gedicht über Georg Büchner sagt: "Der Jugend fehlt ein Führer in der Schlacht" - und dieser Führer fehlt, weil Büchner gestorben war. Das ist ein Gedicht von Georg Herwegh von 1840, das wurde damals sogar in Schulklassen gelesen. Also es gibt einen frühen Büchner-Mythos schon über den großen Revolutionär, der die revolutionäre Sache hätte führen können.

Die Zukunft, wie heißt es – wir sollen keine Voraussagen machen, vor allen Dingen, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Das gilt, glaube ich, auch hier. Ob Büchner das geworden wäre, weiß ich nicht. Er war von Beruf eigentlich Naturwissenschaftler, und wir wissen, dass er das mit Leib und Seele gemacht hat, und das wäre er beruflich sicherlich auch geworden. Aber wer groß ist, der kann halt verschiedene Sachen auf einmal, also konnte er auch die Revolution und er konnte vor allen Dingen die Dichtung.

Karkowsky: Dann war er wohl nicht nur ein jugendlicher Idealist. War er so was wie ein früher Wutbürger?

Dedner: Das können Sie so sagen. Wir sind über seine politische Sozialisation recht gut unterrichtet, da ist etwa der 17-Jährige, der einen Schulkameraden mit "Bonjour, citoyen" also dem Spruch, dem Gruß der Französischen Revolution begrüßt. Dann haben wir einen Brief von 1833, zwei Tage nach einem Putschversuch, wo er sagt: "Wenn etwas noch helfen soll, so ist es Gewalt. Die Fürsten werden uns nicht freiwillig etwas geben. Alles, was sie uns bisher gegeben haben, haben sie nur aufgrund von Gewalt gegeben und uns dann hingeworfen wie ein paar Brocken." Da merken Sie den Wütenden.

Und aus Gießen, wo er dann studiert, im Großherzogtum Hessen, da schreibt er: "Ich konnte es nicht ertragen, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem Staatsaristokratismus, Beamtenaristokratismus zuliebe." Das ist die Zeit, wo er den "Hessischen Landboten" mit dem berühmten Aufruf schreibt, und dass er wütend war, ist ganz sicher.

Er war nicht nur wütend - das ist das eine, was über ihn gesagt wird -, das andere Motiv für seine Schrift ist das Mitleid mit den leidenden Volksklassen, die seines Erachtens nach von den Reichen im Staate ausgebeutet werden, und beides zusammen bringt dann diese mitreißende Flugschrift hervor.

Burghard Dedner, Leiter der Marburger "Forschungsstelle Georg Büchner"
Burghard Dedner, Leiter der Marburger "Forschungsstelle Georg Büchner"© picture alliance / dpa / Rolf K. Wegst
"Da geht es über das hinaus, was wir bereits politisch erreicht haben"
Karkowsky: Der "Hessische Landbote": "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" – so war das überschrieben. Wie kam es zu dieser Schrift?

Dedner: Büchner war vermutlich in Frankreich bereits Mitglied einer sozialrevolutionären Vereinigung geworden. Und diese Vereinigung forderte von ihren Mitgliedern, dass sie neue Gruppen bilden – das tat Büchner in Darmstadt und in Gießen – und sie forderte weiter, dass sie politische Propaganda machen sollten. Das Ziel war, einen Massenaufstand herbeizuführen, weil man gesehen hatte, dass man mit Putschversuchen, örtlichen Putschversuchen nicht weiterkam.

Und Büchner handelte als Mitglied dieser Geheimgesellschaft, indem er den "Hessischen Landboten" schrieb. Dieser "Landbote" wurde dann … Man hat gesagt, es ist jetzt sein Jugendwerk gewesen, eine Gärung oder so was, aber er hat ihn einem erfahrenen Oppositionellen, einem Pfarrer Weidig, in Butzbach gegeben, und dieser Pfarrer hat gesagt: "Besser können wir es nicht machen als er. Diese Schrift muss veröffentlicht werden." Sie wurde dann noch mal von anderen geprüft und ist also jetzt insgesamt ein Gruppenerzeugnis, aber der Autor selbst ist Georg Büchner.

Karkowsky: Glauben Sie, Büchner würde heute vom Verfassungsschutz verfolgt werden?

Dedner: Büchner würde heute sicherlich vom Verfassungsschutz verfolgt werden. Man kann aus seiner Schrift schon herauslesen, dass er die Fürsten aus dem Lande verjagen wollte, wenn nicht Schlimmeres, und das wäre natürlich … Also ein Aufstand gegen die Obrigkeit ist auch heute nicht erlaubt.

Karkowsky: Kann er denn somit als Vorbild gelten für, sagen wir, die Occupy- oder andere Protestbewegungen, die Staat und Wirtschaft kritisieren, oder ging sein Protest noch einen ganzen Schritt weiter?

Dedner: Er steht, war in verschiedenen Traditionen in dieser Hinsicht. Auf der einen Seite hat er die westeuropäische Tradition der Menschenrechte aufgegriffen, er ist ja Gründer von Sektionen der Gesellschaft der Menschenrechte, und er ist also der Meinung, dass alle Menschen frei und gleich in ihren Rechten sind.

Und er fordert im "Hessischen Landboten", dass die Bauern sich bekennen sollen zu dem Gott, der alle Menschen frei und gleich geschaffen hat. Das ist das eine – und das läuft politisch hinaus auf die Einforderung einer demokratischen Republik. Und dann können Sie natürlich bei dem Satz "Alle Menschen sind gleich in ihren Rechten" nachdenken, was das so alles bedeuten kann: Also gleiches Wahlrecht, selbstverständlich. Heißt es auch, gleiche Teilhabe an den ökonomischen Gütern der Gesellschaft – und wie soll man sich das vorstellen? Das wird in dieser Zeit diskutiert.

In dieser Zeit wird in Frankreich zum Beispiel auch diskutiert, wie man den Staat aus der Abhängigkeit von den Privatbanken befreien kann. Man will also den Staat zum Kreditgeber in letzter Instanz machen. Und wir haben einen Brief von Büchner, in dem er sagt, in der Schweiz sei es richtig: Der Kanton Zürich finanziere sich durch die Vermögenssteuer. Sie sehen, das sind Fragen, da geht es jetzt über das hinaus, was wir bereits politisch erreicht haben, in Probleme hinein, die auf jeden Fall in jeder Wahl in diesem Lande immer noch diskutiert werden, und Büchner hatte dabei sicherlich eine recht extreme Position.

"'Wir sind das Volk' ist wahrscheinlich wirklich von Büchner geprägt"
Karkowsky: Und er wäre auch ein guter Wahlkämpfer gewesen, weil er ein sehr guter Polit-Rhetoriker war. Für Büchner war bereits das Wir-Gefühl entscheidend, um mal den SPD-Slogan zu zitieren, und auch "Wir sind das Volk" taucht in "Dantons Tod" auf. Aber gilt Büchner damit auch als Urheber dieses Chorrefrains der Leipziger Montagsdemos?

Dedner: Der Satz "Wir sind das Volk" ist wahrscheinlich wirklich von Büchner geprägt. Bei vielen Sätzen, die in seinen Werken auftauchen, muss man sehr vorsichtig sein, also der berühmte Satz "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", der ist in der Französischen Revolution geprägt worden und war den Leuten, als Büchner den "Hessischen Landboten" schrieb, auch noch präsent. Die wussten, wo dieser Satz herkam. Das war natürlich damals auch eine Provokation. Das weiß man heute nicht mehr. Es wird von Büchner gesagt, dass er über eine hinreißende Beredsamkeit in politischen Dingen verfügt hätte, "sein Auge glänzte wie die Wahrheit", sagt einer seiner Freunde vor dem Untersuchungsrichter in Darmstadt.

Karkowsky: Drei Jahre lang hat Büchner geschrieben an seinem überschaubaren Gesamtwerk, das Drama "Dantons Tod", die Erzählung "Lenz", das Lustspiel "Leonce und Lena", und natürlich das Dramenfragment "Woyzeck". Ich habe schon gesagt, es sind ungefähr 700 Seiten Text, die er geschrieben hat. Sie haben nun 25 Jahre an dieser Gesamtausgabe gearbeitet. Wie dick ist die geworden?

Dedner: Die ist etwas über 8300 Seiten, also insgesamt 18 Bände.

Karkowsky: Wie passt das zusammen?

Dedner: Das hängt mit der Qualität des Werkes zusammen. Also Büchner hatte vermutlich die Absicht, ein Shakespeare zu werden, und er hat - soweit man das in 23 Jahren schaffen kann - das meines Erachtens erreicht. Seine Werke sind dicht in einer Art, wie es die sonst kaum gibt. Das merkt man ja auch an der Zitierfähigkeit seiner Sätze. Sie prägen sich ein und sie prägen sich deshalb ein, weil sie genau durchdacht sind und weil Bücher Material aus anderen Literaturen, von anderen Autoren, aus der Theologie, aus der Naturwissenschaft und so weiter aufnimmt in sein Werk, sodass jeder dieser Sätze so etwas ist wie ein Mosaik oder wie ein Brillant eigentlich, der in alle Richtungen funkelt.

Und es ist jetzt Aufgabe von uns gewesen, die Ingredienz, also die Teile, aus denen diese Wörter, diese Sätze zusammengesetzt sind, genau zu untersuchen. Das ist zum Teil möglich geworden aufgrund der neuen Suchmaschinen, vorher hatten wir es etwas schwieriger, aber auf diese Art konnten wir das ganz gut leisten. Außerdem ist sein Werk auch aktuell in dem Sinne, dass es Themen aufgreift, die in der Zeit diskutiert werden: Französische Revolution, Woyzeck ist ja ein bekannter Kriminalfall in der Zeit, der Fall Lenz, da gilt das Gleiche. Auch das haben wir aufgenommen und dokumentiert. Und deshalb ist diese Ausgabe so lang geworden.

Karkowsky: Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner – der ist heute – Professor Burghard Dedner von der Philipps-Universität Marburg, er ist Projektleiter der gerade abgeschlossenen Büchner-Gesamtausgabe. Herr Dedner, Ihnen herzlichen Dank!

Dedner: Bitte schön, danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.