Bücherfrühling 2017 in Leipzig

Neun Bücher, neun Lesungen, neun Gespräche

Am Stand von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse
Am Stand von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse © Deutschlandradio / Sven Crefeld
Moderation: Joachim Scholl, Jörg Plath, Barbara Wahlster · 25.03.2017
In der Sendung "Bücherfrühling" von der Leipziger Buchmesse sprechen wir drei Stunden über neue Romane und Gedichte – mit Zsusza Bánk, Olga Grjasnowa, Kathy Zarnegin, Kerstin Preiwuß, Henriette Vásárhelyi, Chris Kraus, Feridun Zaimoglu, Lukas Bärfuss, Nico Bleutge.
Diese Sendung haben wir am 25. März 2017 auf der Leipziger Buchmesse aufgezeichnet.
Die erste Stunde mit Zsusza Bánk, Olga Grjasnowa und Kathy Zarnegin zum Nachhören:
Die zweite Stunde mit Feridun Zaimoglu, Lukas Bärfuss und Kerstin Preiwuß zum Nachhören:
Die dritte Stunde mit Chris Kraus, Henriette Vásárhelyi und Nico Bleutge zum Nachhören:
Zsusza Bánk, Schlafen werden wir später. S. Fischer, 683 Seiten, 24 Euro
Moderation: Joachim Scholl. In Leipzig bekam sie ihren allerersten Literaturpreis: Für ihren Debüt-Roman "Der Schwimmer" erhielt Zsusza Bánk 2003 den "Deutschen Bücherpreis", wie die Auszeichnung der Leipziger Buchmesse damals hieß. Diesen Erfolg hat die gebürtige Frankfurterin mit zwei weiteren Romanen und einem Kurzgeschichtenband fortsetzen können. Es sind allesamt gefeierte Bücher, in denen Zsusza Bánk immer wieder ihren ungarischen Wurzeln nachspürt. Für ihren neuesten Roman "Schlafen werden wir später" hat sich Zsusza Bánk Zeit gelassen, Zeit, die sie brauchte, denn diese Buch ist mit nahezu 700 Seiten nicht nur ihr umfangreichstes, sondern auch anspruchsvollstes geworden: ein E-Mail-Brief-Roman, der sich über drei Jahre erstreckt. Zwei Frauen Anfang 40 fragen sich: "War das schon alles in unserem Leben? Was soll jetzt noch kommen?"
Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa bei Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2017
Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa bei Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2017© Deutschlandradio / Stefan Fischer
Olga Grjasnowa, Gott ist nicht schüchtern. Aufbau, 309 Seiten, 22 Euro
Moderation: Jörg Plath. "Gott ist nicht schüchtern" ist ein Roman über Flüchtlinge aus Syrien. Olga Grjasnowa erzählt von einer Schauspielerin und einem Arzt, die in den Bürgerkrieg und in die Hände von Assad treu ergebenen Schergen geraten. Sie können unter Lebensgefahr fliehen. Grjasnowa, 1984 im aserbaidschanischen Baku geboren und mit vielen Weltgegenden vertraut, schenkt ihren Hauptfiguren eine Begegnung am Ende des Buches, nicht vorher. Zurückhaltend, karg, nüchtern schildert sie Demonstrationen, Inhaftierungen und Belagerungen ganzer Stadtteile, lässt an Hoffnungen, Ängsten und einem Mut teilhaben, der von Verzweiflung kaum zu unterscheiden ist.
Kathy Zarnegin, Chaya. weissbooks, 243 Seiten, 20 Euro
Moderation: Barbara Wahlster. Wie entfernt man sich möglichst weit von den Werten und Prägungen der Familie, um eine selbständige Frau, eine unabhängig Liebende und Schriftstellerin zu werden in einer neuen Umgebung und vor allem in einer anderen Sprache? Kathy Zarnegins Romandebüt steckt voller bissiger Beobachtungen, radikaler Argumente und Ambivalenzen. Ihre Protagonistin Chaya dürfte etliche Erfahrungen der Autorin transportieren: Sie kam als Jugendliche aus Teheran in die Schweiz, ist Lyrikerin, Übersetzerin und Mitorganisatorin des Internationalen Lyrikfestivals Basel.
Feridun Zaimoglu bei einer Lesung in Berlin am 17.2.2017
Feridun Zaimoglu bei einer Lesung in Berlin am 17.2.2017© dpa / picture alliance / Gregor Fischer
Feridun Zaimoglu, Evangelio. Kiepenheuer & Witsch, 345 Seiten, 22 Euro
Moderation: Joachim Scholl. 1964 wurde er in der Türkei geboren, mit sechs Jahren kam er nach Deutschland – und seit langem gehört er nun schon zu den etablierten literarischen Stimmen Deutschlands: Feridun Zaimoglu. Seit dem krachenden Debüt "Kanak Sprak" 1995 hat der Autor das Zusammenspiel verschiedenster Kulturen zu seinem Thema gemacht und es in zahlreichen preisgekrönten Romanen variiert, immer originell und stets überraschend. "Einen ungebrochen intensiven, glühenden Ton" hat man ihm von der Kritik attestiert. In jedem seiner Bücher findet Feridun Zaimoglu einen solchen Ton, eine solche Sprachmelodie. Und jetzt, in seinem jüngsten Roman "Evangelio", klingt sie vielleicht noch glühender, noch intensiver als sonst: Wir sind im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, in der Welt des Martin Luther – und er ist auch der in vielerlei Hinsicht glühende Held des Romans "Evangelio".
Lukas Bärfuss, Hagard. Wallstein, 174 Seiten, 19,90 Euro
Moderation: Jörg Plath. Lukas Bärfuss erzählt in dem Roman "Hagard" von 36 Stunden, in denen ein Mann allem Anschein nach unter die Räder gerät. Philip folgt einer Frau um ihrer pflaumenblauen Ballerinas willen und verliert beinahe alles: erst ein lukratives Geschäft, dann einen Schuh, die Verbindung zur Außenwelt und das gepflegte Aussehen eines Wohlstandsbürgers. Er wird jedoch auch mit einer besonderen Erfahrung beschenkt. Die fremde Unbekannte, der er willenlos folgt, obwohl er ihr Gesicht nicht einmal gesehen hat, schleudert ihn aus der Angestelltenwelt hinein in eine andere Sphäre. Mit kräftigen Seitenhieben auf eine im Niedergang befindliche Zivilisation erzählt Bärfuss, 1971 geboren und als Romancier inzwischen fast ebenso bekannt wie als Dramatiker, von einem mystisch erscheinenden Erlebnis.
Kerstin Preiwuß zu Gast beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur
Kerstin Preiwuß zu Gast beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur© Foto: Nils Heider
Kerstin Preiwuß, Nach Onkalo. Berlin Verlag, 240 Seiten, 20 Euro
Moderation: Barbara Wahlster. Kerstin Preiwuß hat ihren ersten Gedichtband 2006 in Leipzig veröffentlicht. Ihr Debütroman "Restwärme" von 2014 spielt in der mecklenburgischen Provinz – in einem kaputten, traumatisierten und traumatisierenden Familienkosmos. Die Region ist auch Schauplatz des neuen Romans "Nach Onkalo" – eine triste Welt "in Abwicklung": bevölkert von verlorenen Seelen. Im Mittelpunkt der 40jährige Matuschek, dem nach dem Tod der Mutter das Leben allmählich entgleitet, das kurze Versprechen der Liebe ebenso wie der Job und die Energie, sich weiter um seine Tauben zu kümmern. Lakonisch und zärtlich erzählt Kerstin Preiwuß vom Überlebenskampf ihres sprachlosen Protagonisten und zeigt uns die Welt der Abgehängten in Nahaufnahme.
Chris Kraus, Das kalte Blut. Diogenes, 1187 Seiten, 32 Euro
Moderation: Joachim Scholl. Eigentlich sollte "Das kalte Blut" ein Film werden – man kann nur spekulieren, wie viele Stunden er gedauert hätte. Als Roman ist "Das kalte Blut" ein Buch von nahezu eintausendzweihundert Seiten geworden, fünfzehn Jahre hat Chris Kraus an ihm gearbeitet. Er ist Jahrgang 1963, und man kennt ihn vor allem als Regisseur von großen, mit vielen Preisen ausgezeichneten Kinofilmen. Seit einigen Wochen läuft sein jüngster Film "Die Blumen von gestern" in den deutschen Kinos – eine Geschichte von Nazischuld und -verbrechen und Verdrängung. Um die braune Vergangenheit und den Umgang mit ihr geht es, wenn auch ganz anders und weitaus "epischer", auch in dem neuen, zweiten Roman von Chris Kraus. "Das kalte Blut" ist eine deutsch-baltische Familien-Saga über drei Generationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 1974.
Henriette Vásárhelyi liest aus ihrem Buch "Seit ich fort bin"
Henriette Vásárhelyi liest aus ihrem Buch "Seit ich fort bin"© Deutschlandradio / Stefan Fischer
Henriette Vásárhelyi, Seit ich fort bin. Doerlemann, 238 Seiten, 20 Euro
Moderation: Jörg Plath. Schon in "immeer", Henriette Vásárhelyis Erstling, der es auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2013 schaffte, spielten das Meer, der Tod eines Freundes und eine Dreiecksbeziehung eine Rolle. In "Seit ich fort bin", dem zweiten Buch der in 1977 in Ostberlin geborenen und in der Schweiz lebenden Schriftstellerin, kommt noch etwas hinzu: das Fremdsein in vielen Facetten und Erinnerungen, die ein Eigenleben führen. Es sind schmerzhaften Erinnerungen, und sie werden geweckt, als Mirjam zu den Eltern fährt, um die Hochzeit ihres Bruders mit einer Rumänin zu feiern. In der Heimatstadt nahe der Ostsee hat sie vor Jahren ihre wichtigste Freundin verloren, gleich mehrfach: erst an das unzugängliche Ausland, als Anis mit ihrer Mutter aus der DDR ausreisen durfte, dann, nach dem Fall der Mauer und ihrer Rückkehr, an die Drogen, schließlich an die Depression. Doch die Erinnerungen an Anis verändern sich. Sie verändern sich mit Mirjam, und sie verändern auch Mirjam.
Nico Bleutge, nachts leuchten die schiffe. C.H. Beck, 87 Seiten, 16,95 Euro
Moderation: Barbara Wahlster. 2001 Gewinner des "open mike" in Berlin, hat Nico Bleutge seither jede Menge Preise erhalten für seine Gedichte. 2008 erschien ein Libretto mit dem Titel "Wasser". Für dieses schwankende Element im "Dazwischen", das Verbindung herstellt und Ferne evoziert, für Meer- und Moorlandschaften, für Naturphänomene überhaupt, hat Nico Bleutge eine besondere Affinität. In dem neuen Band "Nachts leuchten die Schiffe" gibt er sich ganz dem Atem und der Faszination des Wassers hin, verbindet meditative Aspekte mit der Vorstellung von Veränderung und Rationalisierung auf den Wasserwegen – bis hin zur Verarmung und Fluchtursachen. Er lauscht den Wörtern, auch denen anderer Dichter, lässt sich zu Sprachbeschwörung und Spielerei verführen, ruft Erinnerungsbilder auf – das alles ergibt atemberaubende und sinnliche Atmosphären.
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