"Bücher spielen eine mindere Rolle in der Türkei"

Tanil Bora im Gespräch mit Kathrin Heise · 15.10.2008
Der Verleger Tanil Bora sieht die türkische Literatur von ihrer Themenvielfalt her gut aufgestellt. Problematisch sei jedoch, "dass die Türken und die Kurden mehrheitlich eigentlich ein Fernsehvolk sind". Das türkische Erziehungswesen sei nicht gerade lesefördernd. Von der Buchmesse erhofft er sich nicht nur Erfolge türkischer Autoren in Deutschland, sondern auch eine positive Rückwirkung für die Literatur in der Türkei selber.
Katrin Heise: Selten stand die türkische Literatur in Deutschland wohl so hoch im Kurs wie zurzeit. Dank der Frankfurter Buchmesse natürlich. Und wir wollen jetzt hier im "Radiofeuilleton" die Gelegenheit ergreifen und ein bisschen mehr über die Entstehungsvoraussetzungen dieser Bücher in der Türkei erfahren. Und dazu begrüße ich Tanil Bora. Er ist türkischer Autor, er ist außerdem Verlagslektor und Übersetzer und er ist Mitglied im Organisationskomitee des Projektes "Gastland Türkei" auf der Frankfurter Buchmesse. Und wir sprechen mit ihm direkt auf der Frankfurter Buchmesse. Ich begrüße Sie, Herr Bora!

Tanil Bora: Guten Tag!

Heise: Welche Rolle spielen Bücher eigentlich in der Türkei? Lesen die Türken gerne?

Bora: Eigentlich sollte ich zugeben, dass die Türken und die Kurden mehrheitlich eigentlich ein Fernsehvolk sind. Nach den USA, soweit ich weiß, wird am meisten in der Türkei ferngesehen und Bücher spielen eine, wenn man das Potenzial des Landes bedenkt, mindere Rolle. Aber trotzdem gibt es eine rege Buchbranche. Es wird viel Verschiedenes publiziert. Es gibt eine wirklich breite Palette von Büchern. Aber es gibt auch viele Probleme. Zum Beispiel gibt es da Problem von Piratenausgaben. Besonders in der Provinz sind fast nur Piratenausgaben bzw. Raukopien von Büchern zu finden.

Heise: Das heißt, die Autoren, die geschrieben haben, haben dann letztendlich gar nichts davon, von irgendwelchen verkauften Büchern, sondern es werden Raubkopien unterm Tisch verteilt?

Bora: Genau. Und auch die Verleger leiden natürlich darunter. Und das ist ein großes Problem. Das Erziehungswesen ist nicht gerade literatur- und lesefördernd.

Heise: Ich denke, vielleicht kommen wir gleich noch mal zu dem Problem der Raubkopien. Gerne würde ich aber jetzt auch hier einhaken, wo Sie sagen, Lesen wird eigentlich nicht gefördert in der Schule. Das heißt, was wird denn eigentlich angeboten an Büchern? Wird mehr Kriminalliteratur oder ist es viel politische Kommunikation, die gedruckt wird?

Bora: Nein. Vor allem wird ein sehr nationalistischer und ein offizieller Diskurs propagiert.

Heise: Das bedeutet doch aber auch, dass die Bücher offenbar nicht die Themen behandeln, die auch, gerade was Sie ansprechen, junge Leute interessieren. Was wird denn eigentlich geschrieben?

Bora: Eigentlich gibt es schon Bücher, besonders im Fictionbereich, was die jungen Leute direkt interessiert. Und es gibt auch viele junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen, das gibt es schon. Aber, wie gesagt, nur wenige können erwischt werden von den Büchern. Aber was viel publiziert und viel gelesen wird, aus negativer Sicht, wird viel über Verschwörungstheorien gedruckt und auch gelesen. Das hängt natürlich mit den Problemen des Landes zusammen. Das sind so Bücher, sogenannte Sachbücher, die alles auf einen Komplott reduzieren. Aber positiv wird auch Belletristik sehr breit gelesen.

Heise: Die türkische Gesellschaft ist ja eine sehr zerrissene Gesellschaft, so stellt sie sich jedenfalls dar. Wie kommen zum Beispiel die Themen Rolle der Frau, aber auch Religion, nationale Themen, wie werden die literarisch verhandelt?

Bora: Das ist die positive Seite. Über alles wird geschrieben und auch alles, was, in Anführungsstrichen, "gefährlich zumutet". Darüber wird auch geschrieben und auch übersetzt. Man kann auch sehr arrogant vorgehen. Es geht schon. Es gibt so eine relative Toleranz unter dem Lesepublikum. Und auch die Frage der Position der Frauen in der Gesellschaft, das wird auch heftig diskutiert.

Und besonders sollte man auch hervorheben, dass die Frauen nicht nur als Leser, sondern auch Kulturschaffende sehr aktiv geworden sind. Es gibt viele, viele im Fiction- und Nonfiction-Bereich Autorinnen und Schriftstellerinnen, die einen guten Namen gemacht haben. Auch über Islam und Nationalismus wird von verschiedenen Stellungen her gestritten, publiziert. Wie gesagt, die Palette ist wirklich sehr breit, nicht nur, was die Interessenbereiche berührt, sondern auch was die Denkrichtungen angeht.

Heise: Wenn wir vom türkischen Buchmarkt sprechen, sprechen wir dann eigentlich nur von Istanbul und Ankara oder gibt es auch Buchhandlungen in der Provinz?

Bora: Ja, da ist ein sehr großes Problem. In der Türkei gibt es ungefähr 3000 Buchhandlungen, aber zwei Drittel davon sind eigentlich Schreibwarengeschäfte in der Provinz. Leider gibt es nur in den größten drei Städten Istanbul und Ankara und Izmir echte Buchhandlungen. Natürlich bestellen Literaturliebhaber und auch Akademiker über Internet Bücher. Diese Gelegenheit hat sich auch etabliert. Aber wenn man es mit einem Satz zusammenfassen sollte, würde man leider zugeben, dass das Lesepublikum sich auf die größten drei Städten nicht reduziert, aber größtenteils dort verortet ist.

Heise: Wir erforschen im "Radiofeuilleton" das Buchland Türkei, dazu der Verlagslektor und Übersetzer und Autor Tanil Bora. Sie sagten gerade, Herr Bora, dass die Bandbreite sehr groß ist und auch sehr viele junge und neue Autoren und Autorinnen auf den Markt kommen. Wie ist denn ihre Situation, ihre finanzielle, ökonomische Situation?

Bora: Es gibt natürlich wenige Autorinnen und Autoren, die nur vom Schreiben her leben können. Aber, besonders wenn sie übersetzt werden in Weltsprachen und u.a. auch in Deutsch, im letzten Jahr hat man in diesem Sinne ziemlich gute Fortschritte gemacht, dann geht es auch, dass sie nur mit ihrer Arbeit als Autor oder Autorin einfach leben können. So haben sie eine bessere Perspektive.

Heise: Ich habe gelesen, dass Verlage, wenn sie ein neues Buch rausbringen, zum Teil die Erstauflagen ja gerade mal so um die 1000 Stück machen.

Bora: Das stimmt.

Heise: Wie kann ein Verlag, wie kann ein Autor damit überhaupt bestehen?

Bora: Ja, ein Verlag kann damit leben, wenn er viele, viele Bücher produziert und das ist natürlich eine harte Arbeit und ein Autor kann davon natürlich sehr schwer leben, sehr wenige Autoren, Bestsellerautoren, die ihren Lebenshaushalt finanzieren können damit. Das ist das größte Problem.

Heise: Die Literatur der Türkei ist hierzulande, in Deutschland, noch relativ wenig bekannt. Jetzt mal abgesehen vom Nobelpreisträger Orhan Pamuk oder von Yaşar Kemal, der 1997 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Vielleicht kennt man noch den Krimiautor Ahmed Ümit. Aber woher kommt das? Warum weiß man hier in Deutschland von türkischer Literatur?

Bora: Weil es ja sehr weniges zu lesen gab bisher. Das hat sich in der letzten Zeit ziemlich verändert. Besonders im Vorfeld der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sind viele Autoren, Dutzende von Autoren schon übersetzt worden und sie stoßen auf gute Kritik, zum Hassan Ali Toptaş kennt man schon hierzulande oder auch Mario Levi, Şebnem İşigüzel. Und ich hoffe, dass dies sich ändern wird, nicht nur die Autorenpalette, sondern auch die Palette der Themen, die mit der Türkei zusammengebracht werden, wird sich verbreiten, so hoffe ich.

Heise: Ich spreche ja direkt mit Ihnen auf der Frankfurter Buchmesse. Das heißt, Sie können ja vielleicht sogar schon beobachten, wie sich auch türkische Autoren da vor Publikum machen. Sie haben gesagt, das hat wahrscheinlich große Auswirkungen auf türkische Literatur in Deutschland. Wird das Ihrer Meinung nach auch wieder zurückschwappen auf den türkischen Markt, dass eine türkische Literatur da noch mal wieder einen Schub im eigenen Heimatland bekommt?

Bora: Genau das hoffe ich ja. Denn wenn man erlebt, dass man nicht nur im eigenen Lande, innerhalb der eigenen Sprache, sondern auch international auf Interesse stößt, dass man kompariert wird mit anderen Literaturzweigen oder mit anderen Literaturen, dann ist das schon erfrischend und weiterbringend. Und so ist es ganz normal, dass ich große Hoffnung darauf lege.

Heise: Tanil Bora, Verlagslektor und Übersetzer und Autor über das Buchland Türkei. Ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Bora: Ich bedanke mich.