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"Je kaputter das Land, desto besser die Literatur"

Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler bei der Verleihung der Goethe-Medaillen 2009.
Die Schriftstellerin Taiye Selasi beispielsweise trage mit Glamour ihren Kosmopolitismus vor sich her und habe den Postkolonialismus längst hinter sich gelassen, so Sigrid Löffler. © dpa / picture alliance / Martin Schutt
Moderation: Klaus Pokatzky · 27.12.2013
In Indien, Afrika oder der Karibik verortet Sigrid Löffler eine neue Weltliteratur, die sehr oft eine Literatur von Migranten sei. Sie habe bereits verschiedene Integrationsstufen durchlaufen, ihr zukünftiger Charakter sei postnational, postethnisch und universal.
Klaus Pokatzky: Kennen Sie die "Empire Windrush“, das Schiff, das am 22. Juni 1948 im englischen Tilbury an der Themsemündung angelegt hat? Die "Empire Windrush“ hat damals vor 65 Jahren die ersten Arbeitsmigranten aus Jamaika nach Großbritannien gebracht. Es begann die Zeit, da das Vereinigte Königreich seine Kolonien in die Unabhängigkeit entließ und die meisten von ihnen im Commonwealth behielt, und es war die Zeit, in der billige Arbeitskräfte aus der Karibik und Asien und Afrika ins Mutterland gebracht wurden.
Sie kamen in die Kälte, nicht nur, was die Temperatur anging, sondern auch ihre Behandlung durch die alteingesessenen Briten. Solche Erfahrungen wurden dann von den literarisch Talentierten und Ambitionierten unter den Einwanderern verarbeitet. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hat ein Buch über sie geschrieben, über "Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“. Willkommen im Studio!
Sigrid Löffler: Hallo!
Pokatzky: Frau Löffler, was ist denn das wirklich Neue an dieser Weltliteratur?
Löffler: Na, wir kennen ja das Wort Weltliteratur, den Begriff, von Goethe her, aber Goethe hat Weltliteratur einerseits als die Höhenkammliteratur betrachtet, andererseits hat er doch den stark eurozentrischen Blick gehabt. Aber diese neue Weltliteratur ist eine globale Literatur. Die kommt aus Weltgegenden, von denen wir bisher gar nicht gedacht haben, dass dort Literatur entstehen könnte, also aus dem indischen Subkontinent, aus Afrika, aus der Karibik.
Und das ist eine Literatur, die sehr oft eine postkoloniale Literatur ist, sofern die Autoren in den ehemals britischen oder französischen Kolonien geboren sind, aber es ist auch sehr oft eine Literatur von Migranten. Es sind sehr oft auch Sprachwechsler, es sind Leute, die nicht mehr in ihrer Muttersprache schreiben, und es sind Leute, die sozusagen eine Literatur aus Gegenden schreiben, von denen wir bisher gar nichts gewusst haben.
Pokatzky: Und es sind Menschen, die vor allem aus sehr warmen, um nicht zu sagen heißen Regionen kamen, die in die Kälte kamen, die ja auch, ja, vom Licht in die Dunkelheit kamen, das als Schockerlebnis erfahren haben, und die nicht unbedingt begrüßt wurden. Wie hat sich denn das, dieser unfreundliche Empfang durch die Alteingesessenen, und wie hat sich dieses Gefühl von Kälte, von Dunkelheit in den Erzählungen aus dieser Zeit niedergeschlagen?
Löffler: Ja, natürlich sehr stark. Es ist klar, dass sehr viele dieser Migranten aus tropischen Klimaten gekommen sind und sich in England, wo sie zunächst mal um Asyl angesucht haben, nicht wohlgefühlt haben. Ähnliches gilt aber auch für Migranten, die beispielsweise nach Kanada gegangen sind. Auch die schreiben über die Kälte dort und auch über die Kälte der Einheimischen und wie unfreundlich sie empfangen wurden. Diese Unfreundlichkeit stand in einem, vor allem, was England angeht, in einem krassen Missverhältnis zu dem, was eigentlich die Politik zunächst mal des Mutterlandes war: Man hat diese Commonwealth-Menschen ja eingeladen, man brauchte sie als billige Arbeitskräfte. Aber als sie ankamen, sahen sie, dass sie nicht willkommen waren.
Pokatzky: Frau Löffler, wenn wir jetzt noch mal so in die ganz alten Zeiten zurückgehen: Zu den Einwanderern, die dann nach London kamen, gehörten ja auch heutige Literaturnobelpreisträger: Doris Lessing, J. M. Coetzee oder V. S. Naipaul. Sie waren zwar keine Arbeitsmigranten, aber sie haben natürlich die Themen auch dieser Heimatlosigkeit aufgegriffen. Was ist an den Romanen dieser drei Schriftsteller so bemerkenswert, dass sie dafür den Literaturnobelpreis bekommen haben?
Löffler: Ja, das Interessante an ihnen ist, dass sie die Vorgänger oder Vorläufer dieser neuen, nicht-westlichen Literatur sind. Alle drei kamen ja aus ziemlich entlegenen Winkeln des British Empire, Doris Lessing aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, Vidiadhar Naipaul aus Trinidad, also aus der Karibik, und Coetzee als zwar weißer Südafrikaner aus Südafrika.
Und alle drei kamen als junge Leute in England an und haben in England eine große Metamorphose durchgemacht. Das war auch eine Identitätskrise, die sie alle durchgemacht haben, weil eben die kolonialen Erfahrungen nicht zu dem gepasst haben, was sie hier in England erlebt haben. Aber diese große Identitätskrise haben sie dadurch, dass sie darüber geschrieben haben, auch geheilt. Man sieht natürlich auch, dass diese Migrationserfahrung auch durchaus eine glückliche Erfahrung sein kann. Alle drei sind ja literarische Erfolgsgeschichten, alle drei haben in England groß reüssiert, sind Weltautoren geworden.
Pokatzky: Sie kamen hin sicherlich mit einem Gefühl von Heimatlosigkeit. Wurde dann auch durch die Literatur eine neue Heimat gefunden mithilfe der Sprache?
Löffler: Ja, das Entscheidende ist, dass diese migrantischen Autoren, die ja meist aus nicht-westlichen Ländern kommen, doch mit ihrer Literatur einmarschieren in die westliche Literatur, aber diese Erfahrung, die Kultur der Herkunftsländer in die Kultur ihrer Zufluchtsländer hineinzutragen, dass man mehrere Identitäten hat, dass man die Kultur gewechselt hat – alles das ist ein ganz großes Thema dieser Literatur.
Fremdheitsgefühle bei Salman Rushdie
Man könnte da zum Beispiel auch Salman Rushdie anführen, der ja aus Indien kam, und der genau diese Fremdheitsgefühle und diese verschiedenen Integrationsstufen in den Westen zu seinem großen literarischen Thema gemacht hat. Er ist jemand, der den Westen im Osten beschreibt und den Osten im Westen. Und ich glaube, dass das eigentlich die Zukunft dieser neuen Weltliteratur ist: Sie ist postnational, sie ist postethnisch, sie ist universal.
Pokatzky: Und können wir bei den jüngeren Schriftstellern, ich sage jetzt mal, bei den jüngeren Migrantenschriftstellern, da auch die Konsequenzen auch sehen, die dadurch vielleicht schon geprägt wurden? Sind die polyglotter?
Löffler: Ja, auf jeden Fall sind sie insofern polyglott, als sie schon mal die Sprache gewechselt haben. Ihre Literatursprache ist nicht ihre Muttersprache. Es ist eine Literatur der Nicht-Muttersprachlichkeit, mit der wir es hier zu tun haben, wenn Sie wollen, eine Literatur mit Akzent. Sie schreiben ja dann auch ein kreolisiertes Englisch. Das bereichert aber die Sprache. Wir können das auch im Deutschen sehen: Auch die deutschsprachige Literatur wird unendlich bereichert dadurch, dass wir auch Einwanderer in die deutsche Sprache und in die deutsche Literatur haben.
Pokatzky: In Ihrem Buch führen Sie da als ein Beispiel der jüngeren Schriftstellergeneration Taiye Selasi an. Was macht die mit ihrem Buch "Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ auch exemplarisch für die Literatur einer neuen Migrantengeneration?
Löffler: Nun, diese Migrantenliteratur, die ich beschreibe, umfasst ja inzwischen schon 60 Jahre. Und da haben sich natürlich auch mehrere Generationen herausgebildet, und die haben unterschiedliche Erfahrungen. Die erste Generation der Einwanderer, das waren wirklich die, die unter der Kälte gelitten haben, die nicht wohlgelitten waren und die darüber geschrieben haben, die auch in miese Jobs abgedrängt wurden und dann als Taxifahrer sich durchgebracht haben oder sonst schlecht gelebt haben.
Aber die zweite Generation hatte es schon besser, weil sie besser ausgebildet waren und daher auch bessere Jobs hatten. Und inzwischen haben wir es mit der dritten Generation zu tun, und da gibt es einige vor allem afrikanischstämmige Autoren, die geradezu mit Glamour ihren Kosmopolitismus vor sich hertragen.
Pokatzky: Teju Cole zum Beispiel.
Löffler: Teju Cole ist einer davon, Taiye Selasi ist eine andere, und zwar durch ihre kulturelle Teilnahme, gar nicht so sehr durch ihre ethnische Teilnahme, das ist gar nicht mehr interessant, das haben sie längst hinter sich gelassen, wie sie auch den Postkolonialismus hinter sich gelassen haben, aber sie genießen jetzt, dass sie auf drei Kontinenten, auf vier Kontinenten leben können, überall willkommen sind und einfach auch über die Weltkultur verfügen.
Weitreichendere Erfahrungen als deutsche Autoren
Pokatzky: Dann blicken wir mal auf den Subkontinent, den indischen Subkontinent. Mohsin Hamid, der auch in den USA ausgebildet ist, der nimmt die Konflikte seiner pakistanischen Heimat ja sehr unter die Lupe. Da geht es um Konflikte zwischen Tradition, Religion und Moderne in dem Buch "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“. Wie macht er das genau? Wie literarisch überzeugend ist das?
Löffler: Ja, das Interessante ist natürlich ein kaputter Staat wie Pakistan. Ich würde fast die überspitzte These aufstellen: Je kaputter das Land, desto besser und üppiger die Literatur. Und da ist natürlich Mohsin Hamid eine interessante Figur. Er ist ja ein Pendler zwischen den Kulturen, lebt zum Teil in Lahore, also in Pakistan, seinem Geburtsort, und teils in Amerika, ist natürlich in Amerika in Nobeluniversitäten ausgebildet und verfügt auch über beide Kolonien, hat natürlich auch diesen transkontinentalen Blick auf die Welt.
Aber das schärft auch seinen kritischen Blick auf sein Heimatland, auf Pakistan, das natürlich eine Brutstätte des Terrorismus auch ist und Ausbildung für Al-Kaida-Terroristen. Aber andererseits hat er natürlich auch diesen kritischen Blick auf den Westen, beispielsweise auf Amerika, vor allem die Entwicklung nach 2001. Und dadurch, dass er den doppelten Blick hat, auf den Westen und auf den Osten, ist seine Literatur natürlich auch besonders aufschlussreich.
Pokatzky: Sie beschreiben in Ihrem Buch auch Literaten aus einem Bürgerkriegsland wie dem Libanon oder dem zerfallenden Jugoslawien. Wenn wir also all diese neuen Weltliteraten nehmen – was gibt es, das sie vielleicht verbindet? Verbindet sie überhaupt irgendetwas?
Löffler: Ja, ich denke, dass sie ein neuer Blick auf die Welt verbindet, neue Erfahrungen, die natürlich auch in ihre Literatur eingehen. Sie haben Erfahrungen, die ein friedliches Land wie Deutschland, die Autoren hier, die nie Krieg erlebt haben, die ein Land mehr oder weniger im Stillstand erlebt haben, gar nicht haben können. Nun möchte ich den deutschen Autoren nicht wünschen, dass sie unbedingt Bürgerkriegserfahrungen haben müssen oder aus ihrem Land vertrieben werden, ehe sie Autoren werden, aber gleichwohl muss man sagen, dass diese neuen globalen Autoren uns sehr viel über die heutige Welt mitteilen, was wir sonst nicht wüssten.
Pokatzky: Danke, Sigrid Löffler. Ihr Buch "Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ ist im C. H. Beck Verlag erschienen mit 344 Seiten, der Band kostet 19,95 Euro.
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